Maßlosigkeit ist ein Zeichen unserer Zeit. Was könnte der Mensch dem entgegenstellen? Ein philosophischer Diskurs mit Christoph Quarch.
Auf der Suche nach dem Maß aller Dinge
«Gibt es auf Erden ein Maß?» Lapidar klingt die Frage, die der Dichter Friedrich Hölderlin in einem seiner späten Gedichte formulierte. Und lapidar ist auch die Antwort, die er auf sie gab: «Es gibt keines.» Heute, zweihundert Jahre später, wird kaum anders antworten, wer aufmerksam in die Welt blickt. Die Menschheitsfamilie, so scheint es, ist zu großen Teilen maßlos und vermessen: maßlos in ihren Ansprüchen, in ihrem Konsum, in ihrer Mobilität – vermessen in ihrem Egoismus, ihrer Machtgier, ihrer Angst.
In dieser Situation ist es geboten, die Frage neu zu stellen: Welchen Maßstab müssen wir wählen, um unsere Vermessenheit abzulegen. Oder – wie vielleicht unsere geistigen Ahnen im alten Griechenland formuliert hätten: Wer oder was ist das Maß aller Dinge? Tatsächlich tobte um diese Frage in der Antike eine hitzige Debatte. Losgetreten hatte sie der Philosoph Protagoras, der schon im fünften Jahrhundert vor Christus formulierte: «Der Mensch ist das Maß aller Dinge.» Auf ihn antwortete ein Menschenalter später Platon. Er sagte: «Gott ist das Maß aller Dinge.» Mensch oder Gott? – Das ist hier die Frage. Genauer: Liegt es in der Hand und Gewalt des Menschen, die normativen Maßstäbe seines Handelns zu definieren – oder gibt es universal verbindliche Pflichten und Normen, an denen Maß zu nehmen uns aufgetragen ist? Wenn der Mensch das Maß aller Dinge ist, dann – so lehrte es Protagoras – ist jeder Mensch gut beraten, sich ein Höchstmaß von Macht und Einfluss zu verschaffen, um seine Maßstäbe gegen die Maßstäbe anderer durchzusetzen. Es liegt auf der Hand, dass der Vermessenheit damit Tür und Tor geöffnet sind.
Gott – aber welcher?
Wenn umgekehrt Gott das Maß aller Dinge ist, dann wäre ein absolutes Kriterium benannt, das die Unterscheidung von gut und böse erlaubt. Aber: Welchen Gott meinen wir? Den christlichen? Den muslimischen? Den jüdischen? Oder denken wir an Krishna und Vishnu? Oder an das Tao des Ostens? Oder den großen Geist der Schamanen? Oder gar an den Gott der Philosophen? Wir dürfen damit rechnen, dass jede einzelne Religion oder Konfession für sich den Anspruch erheben wird, den Gott zu kennen, der das Maß aller Dinge ist. Tatsächlich sehen sich die Religionen – zumindest die meisten – als maßgebliche Instanzen bei Fragen von Moral und Ethik. Und auch die Öffentlichkeit hält sie dafür. Kein Ethik-Ausschuss, bei dem dies anders wäre – keine ethische Streitfrage, bei der nicht selbstverständlich Theologen konsultiert werden. An den Religionen kommt bei ethischen und moralischen Fragen keiner vorbei.
Aber damit ist nicht gesagt, dass ihre Stimme maßgeblich zu sein hat. Auch wenn viele Religionen – beziehungsweise ihre Anhänger und Repräsentanten – das gerne so hätten. Wo das so ist, sprechen wir von Fundamentalismus. Aber für eine globalisierte Welt wie für eine religiös plurale Gesellschaft wird keine Ethik funktionstüchtig sein, die sich auf Gott als Maß aller Dinge beruft. Damit ist nicht die moralische und ethische Kompetenz der Religionen in Frage gestellt. Aber eine nüchterne Sicht der Dinge nötigt zu der Annahme, von den Religionen nicht das Maß aller Dinge erwarten zu können.
Die «Goldene Regel»
Damit kommen wir zur Philosophie. Einer der Großen, der hier genannt werden muss, war Immanuel Kant. Auf der Höhe der Aufklärung, als die moralische Autorität der Kirche längst gebrochen war, schickte er sich an, die Quelle und das Prinzip der Moral außerhalb aller religiösen Systeme und Kontexte zu finden. Seine Lösung war so kühn und klar, dass sie noch heute von vielen Menschen – wenn auch meist unbewusst – anerkannt wird. Nicht der Mensch und auch nicht Gott, so Kant, ist das Maß aller Dinge – sondern es ist dasjenige, was noch über Mensch und Gott steht: die Vernunft. Was, so Kant, uns Menschen zu Menschen macht, ist unsere Freiheit. Frei sind wir infolge unserer Vernunft. Aus ihr leitet sich das allen Menschen verbindliche Sittengesetz her. Und dieses Sittengesetz findet seinen Ausdruck in dem berühmten Kategorischen Imperativ, der auch als Goldene Regel vielen geläufig ist: In der populärer Fassung lautet diese Regel: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Haben wir somit den Ort von Moral und Ethik gefunden? Wir haben ihn nicht. Ich muss lediglich daran erinnern, dass wir uns 200 Jahre nach Kant eingestehen müssen, dass die Welt nicht durchgreifend besser geworden ist und der Kategorische Imperativ die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht verhindern konnte. Das muss einen Grund haben.
Vernunft reicht nicht
Am einfachsten wäre zu sagen: Der Grund dafür liegt darin, dass der Mensch nun einmal nicht vernünftig ist und deshalb auch nicht durch reine Vernunftgründe auf ein moralisches Handeln verpflichtet werden kann. Denn eine Ethik der reinen Vernunft hat ein Motivationsproblem. Offenbar bedarf es anderer und stärkerer Impulse zu ihrer Befolgung als allein der Appell an die Vernunft.
Gibt es auf Erden ein Maß? Der Theologe Hans Küng würde sagen: Ja, das gibt es; und zwar in Gestalt des Weltethos, das von allen Kulturen geteilt wird, wenn sie es auch je anders herleiten, begründen oder formulieren. Sind wir also jetzt am Ziel? Machen wir die Probe aufs Exempel: Glauben Sie, dass es gelingen wird, unter Berufung auf das Weltethos die gravierenden Probleme dieser Welt zu lösen? Ich glaube es nicht. Denn in seinem Kern ist das Weltethos eine feine Sache. Aber: Sie versagt, weil sie ein äußeres Maß ist, auf das wir verpflichtet werden. Das ist das Kernproblem, warum durch alle bisherigen Morallehren die Welt nicht wirklich besser geworden ist.
Nehmen wir noch einmal die Goldene Regel. Sie ist vernünftig, keine Frage. Dem Herzen aber hat eine reine Vernunftethik nichts zu bieten. Dass die Vernunft für das Herz nicht maßgeblich ist, weiß jeder, der einmal in seinem Leben verliebt war. Er weiß, dass sich das Herz im Zweifelsfall nicht um die Weisungen der Vernunft schert. Ein Maß aller Dinge jedoch, das seinen Namen wirklich verdient, muss uns in der ganzen Bandbreite unseres Lebens ansprechen: in Kopf, Herz und Bauch, in Gedanken, Gefühlen und Affekten – die Alten hätten gesagt: Es muss uns in der Seele berühren. Wenn es überhaupt ein Maß aller Dinge gibt, so können wir jetzt sagen, dann ist es die Seele.
Grundstruktur des Lebens
Was aber heißt Seele? Ich weiß es nicht. Aber ich verstehe darunter so etwas wie die Grundstruktur des Lebens. Am besten lässt sich das immer noch mit Hilfe des alten Platon darstellen. Für ihn war die Seele des Menschen das Gefüge aus Geist, Gefühlen, Affekten und körperlichen Prozessen. Man könnte auch sagen: aus Kopf, Herz und Bauch. Deren Ineinander und Miteinander nannte er psyché – Seele. Dieselbe Struktur fand er auch in ökonomischen Körperschaften und politischen Gemeinwesen. Mehr noch: Er fand sie im ganzen Kosmos als dessen tragende Grundstruktur. Heute würden wir sagen: Er beschrieb die Grundstruktur des Lebens als dynamisches System. Und damit nicht genug: Er stellte fest, dass alle lebendigen Systeme – von der Amöbe über den Menschen bis hin zum Staat und dem Universum im Ganzen – auf einen Zustand angelegt sind, in dem sie mit sich übereinstimmen und Einklang erzeugen.
Diesen Einklang nannte er Harmonie: Alle lebendigen Systeme, alles Beseelte, ist auf Harmonie angelegt. Wobei man bei Harmonie nicht an Friede-Freude-Eierkuchen denken soll, sondern an höchste Spannung, die doch in sich so stimmig ist, dass sie Gegensätzliches und Widersprüchliches auszuhalten vermag. Im Blick auf unser individuelles Dasein nennen wir es Gesundheit, im Blick auf unsere soziale Wirklichkeit Gerechtigkeit, im Blick auf die Werke der Kunst Schönheit. Jetzt können wir sagen: Harmonie ist das Maß aller Dinge. Und zwar deshalb, weil sie das innere Maß der Seele ist.
Gleichgewicht verhilft zum Glück
Wenn das stimmt, dann liegt das Maß aller Dinge in uns selbst. Entsprechend wird unser persönliches Leben dann weder vermessen noch maßlos sein, wenn wir mit uns im Einklang sind: Wenn wir die Mannigfaltigkeit unseres Lebens mit all seinen Wünschen, Sehnsüchten, Makeln und Erfolgen so ins Gleichgewicht bringen, dass es stimmt. Und dann erleben wir das als den Zustand des Glücks.
Nicht anders verhält es sich im Wirtschaftsleben. Worauf es ankommt, ist nicht so sehr die Befolgung eines äußeren Maßes, sondern die kontinuierliche Einstimmung auf das innere Maß. Es bedarf nicht so sehr der Maßgabe von Wirtschaftsethik oder –moral, sondern es bedarf einer ökonomisch-ökologischen Lebenskunst, die achtsam sein lässt für das innere Maß sowohl des Unternehmens als auch der größeren Systeme, in das es eingebunden ist: die Gesellschaft, die Umwelt, das Klima. Nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg ebenso wie ökologische und soziale Gesundheit werden die Folge sein. Wirtschaften im Einklang mit dem Leben – das wäre das Programm der Zukunft.
Werden wir damit die Menschheitsprobleme angehen können? Ich kann diese Frage nicht abschließend beantworten. Aber ich bin davon überzeugt, dass sich hier eine lohnende Spur auftut.
Christoph Quarch ist Philosoph und Buchautor
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