Lucas Buchholz hat mehrere Monate in Kolumbien mit dem Volk der Kogi-Indianer verbracht. Einem Naturvolk, welches wichtige Botschaften für uns hat. Sie bezeichnen uns als ihre »Jüngeren Brüder«, die den Pfad verlassen haben. Sie bitten uns, wieder anzufangen, zu denken. Und wieder die Konsequenzen unseres Handelns zu bedenken. Dafür sollten wir uns stets eine Frage stellen: Ist das, was ich tue, dem Leben zugewandt?
Auszug aus dem Buch “Kogi – Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert” von Lucas Buchholz.
Gedankliche Uniformität
Es ist Mittwochmorgen, 7:00 Uhr, am 10. Februar. Mit meiner Partnerin warte ich auf die U-Bahn, die uns zum Flughafen Frankfurt bringen wird. Wir fliegen gemeinsam nach Kolumbien, um die Kogi-Indianer zu treffen. Die Türen der U-Bahn schließen sich und lassen den kalten Februarmorgen draußen zurück. Dicht gedrängt stehen die Menschen in den Zwischenräumen um uns herum, eine bunte Mischung. Viele tragen einen Anzug und werden den beginnenden Tag vielleicht in einer der Banken Frankfurts verbringen oder in der Dienstleistungsbranche oder im Verkauf.
Die meisten blicken auf ihr Smartphone, was mir als verbindende Gemeinsamkeit jenseits äußerlicher Unterschiede ins Auge springt. Der Zug fährt ruckelnd um eine Kurve, und zwei Passagiere stoßen leicht gegen ihren Nebenmann und zischen ein kurzes `Entschuldigung. Die leuchtenden Displays in den Händen unterstreichen das dumpfe Gefühl des urbanen Trancezustands. Die Konzentration auf die erscheinenden WhatsApp-Zeilen, begleitet von einer kurzen Vibration, macht es unnötig, mit seiner Umgebung in Kontakt zu treten.
Der Zug kommt holprig zum Stehen, und auch wir schrecken aus unseren Gedanken und Beobachtungen auf. Wir müssen umsteigen. In der U-Bahn-Station laufen alle zielgerichtet mit schnellem Schritt in irgendeine Richtung, zu irgendeiner Rolltreppe, um eine Ebene nach oben oder unten zu kommen. Die Blicke der Menschen streifen einen dort sitzenden Mann. Vielleicht bemerken sie ihn, vielleicht auch nicht. Als Moment des Lebens, der Lebendigkeit oder des Kontaktes wird die morgendliche Fahrt nicht wahrgenommen. Mir kommt das Wort »Work-Life-Balance« in den Sinn. Dem Begriff folgend ist Arbeit nicht Teil des Lebens, sondern außerhalb davon, was zu der merkwürdigen Vorstellung führt, dass Leben und Arbeit sich gegenseitig ausgleichen müssen.
Sprachen als Schlüsselerlebnisse…
Beim Warten am Flughafen wandern meine Gedanken zurück, und Erinnerungen ziehen an meinem inneren Auge vorbei. Mit 18 Jahren, direkt nach Abschluss der Schule in England, war ich fast ein Jahr in Südamerika, hauptsächlich in Peru. Ich arbeitete im Heiligen Tal, in der Nähe von Cuzco, an einer landwirtschaftlichen Schule als Sport- und Englischlehrer. Im Rahmen dieses Aufenthaltes reiste ich nach Brasilien, Bolivien, Venezuela und Costa Rica.
Ich hatte Interesse an anderen Ländern und Kulturen. Gleichzeitig bemerkte ich, dass ein solches »Gap-Year« heutzutage zum Trend und Aushängeschild angeblicher Weltgewandtheit geworden ist. Im Studium folgten Auslandspraktika und Aufenthalte in Mozambique, Jordanien, Pakistan, Israel und Palästina. Ich lernte andere Kulturen kennen und ein Stück weit in ihnen zu leben. Ich lernte weitere Sprachen. All das waren Schlüsselerlebnisse, aber nicht im vermuteten Sinne. Denn was ich begriff, war, wie weit die Homogenisierung der Welt zu einer globalisierten Kultur und Denkweise bereits fortgeschritten ist.
Der Duft des Reisens…
Das Bild ist mir noch sehr präsent. Auf der Fahrt vom Aeroporto Internacional de Maputo, dem Flughafen der Hauptstadt Mozambiks, in die Innenstadt, war ich überrascht. Ich blickte aus dem Fenster, und was da an mir vorbeizog, sah sehr ähnlich aus wie in Brasilien, in Peru oder Venezuela. Und das, obwohl ich mich Tausende von Kilometern entfernt auf einem anderen Kontinent befand. Die Stadtränder vieler Orte in Südamerika und der von Maputo sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Überall bunt bemalte Hütten, Coca Cola-Werbung, kleine Läden, die alles, was man eventuell brauchen könnte, im Angebot zu haben schienen. Die Straßenhändler, die ihre Karren vor sich herschiebend lauthals ihre Waren anpriesen, die von Gasflaschen, über Obst, zu selbst gebackenem Allerlei reichten. Ähnliches sah ich später auch in Amman und Islamabad.
Trotz eines immer weiter wachsenden Fundus an Reiseerfahrungen stand am Anfang eines jeden neuen Ortes immer das Staunen über neue Farben, Gerüche, Geschmäcker, Geräusche und Begegnungen. Gleichzeitig formte sich mit jedem weiteren Land das Gefühl, hinter die Unterschiede zu blicken. Ich bekam eine vage Vorstellung davon, was Globalisierung auf gedanklicher Ebene bedeutet. Gedankliche Globalisierung ist nicht nur Verbindung und Erweiterung, sondern oft auch Verlust von Ursprünglichem und Eigenem. Ich spürte, dass in den Städten vom Himalaya in Nordpakistan über den dichten Regenwald Brasiliens, die Küste Mozambiks hin zu den Wüsten Jordaniens die augenscheinlichen Unterschiede im Weltverständnis nur oberflächlicher Natur sind. Jenseits der durchaus gegebenen Andersartigkeit des Essens, der Kleidung, der religiösen Identität, der Sitten und Gebräuche und der Sprache wird in der urbanen Gesellschaft das Verständnis der Welt immer homogener.
Wie die Kogi-Indianer jenseits gedanklicher »Gleichschaltung« leben
Durch das Reisen mit »Couchsurfing« entstanden schnell direkte Kontakte mit Stunden voller interessanter, intensiver und spannender Gespräche. Die Aufenthalte in den Familien ermöglichten mir Zugang zum alltäglichen Leben der Menschen. Es kristallisierte sich heraus, dass die Ziele der meisten jungen und oft auch älteren Menschen unabhängig von Religion oder Herkunft fast überall dieselben sind. Bei den meisten Menschen geht es einfach um Zugehörigkeit, soziale Anerkennung und sozialen Aufstieg, finanzielle Sicherheit, einen guten Job, Karriere. Oft im Zusammenhang mit Reichtum und Luxus und dem technischen Fortschritt.
Doch nicht nur die Lebensziele gleichen sich an, sondern auch die Herangehensweisen an Probleme und damit die Denk- und Sichtweisen. Damit vermindert sich einerseits die Unterschiedlichkeit möglicher Lösungswege und Ergebnisse, und andererseits werden unsere gedanklichen Begrenzungen vereinheitlicht. Diese gedankliche Angleichung und wachsende Uniformität ist in den Cafés von Islamabad, den Büros von Amman und den Banken von Lima zu finden. Diese Erlebnisse stellen den Kontext und formten damit auch die Reichweite der Begegnung mit dem Vok der Kogi-Indianer, die jenseits gedanklicher »Gleichschaltung« leben.
Die Wahrnehmung der Welt war traditionell stark an unseren Lebensraum geknüpft und hat sich über Jahrtausende zu dem geformt, was wir Kultur nennen. Unsere Art zu denken, die Metastruktur der Gedanken wie auch die Gedanken selbst, sind essenzieller Teil davon. Dabei müssen wir uns, wie Wade Davis schreibt, die zentrale Offenbarung der Anthropologie ins Gedächtnis rufen. Sie besagt, dass unsere Lebenswelt nicht in einem absoluten Sinne existiert, sondern ein Modell der Realität darstellt. Dabei existieren Modelle mit unterschiedlichen Ergebnissen und Konsequenzen. Und doch haben auch gute Modelle Begrenzungen und Probleme, genauso wie weniger gute Potenziale und Impulse bieten.
Das Vermächtnis der Ethnosphäre
Wade Davis spricht analog zur Biosphäre von der Ethnosphäre. Die unzähligen Kulturen der Welt bilden ein Netz aus spirituellem und kulturellem Leben, das die Erde umhüllt und für das Wohl der Erde genauso von Bedeutung ist wie das biologische Lebensnetz, das man als Biosphäre kennt. Man kann dieses kulturelle Lebensnetz als die Gesamtsumme aller Gedanken, Träume, Mythen, Ideen, Inspirationen und Intuitionen, die von der menschlichen Vorstellungskraft seit den Anfängen des Bewusstseins hervorgebracht und entdeckt wurden, definieren. Ähnlich wie die Biosphäre durch drastisches Artensterben reduziert wird, wird dieses großartige Vermächtnis der Ethnosphäre durch die Gleichschaltung unseres In-der-Welt-Seins abgetragen. Der Unterschied ist nur, dass dies viel schneller geschieht als in der Biosphäre. Einer der entscheidenden Indikatoren ist das Verschwinden von Sprachen. Im Verhältnis zur Gesamtzahl sterben Sprachen in einem viel schnelleren Maße aus als Tier- und Pflanzenarten.
Wenn eine Sprache verschwindet, verschwindet damit eine Perspektive auf die Welt. Denn manches kann nur durch bestimmte Worte einer bestimmten Sprache treffsicher ausgedrückt oder überhaupt gedacht werden. Die Frage, ob das Aussterben von Sprachen einfach dem natürlichen Lauf der Dinge entspricht, lässt sich gedanklich leicht durchspielen. Das Szenario einer vereinheitlichten Sprache und Kultur, mit Kantonesisch als Weltsprache und Inuit als Kultur, lässt die meisten Menschen schnell erkennen, was es bedeuten würde, ihre Identität zu verlieren, ihre Sprache nicht mehr sprechen zu dürfen und sich nur noch von fremden Nahrungsmitteln – hauptsächlich rohem Fisch oder Robbe – zu ernähren. Dies mag vielleicht etwas überzeichnet klingen, aber erleben wir nicht genau das? Wird nicht inzwischen fast überall auf der Welt Wasser in Plastikflaschen verkauft, Fernsehen geschaut und in vielen Ländern Pizza und Burger gegessen?
Die Welt denken…
Das Problem dabei sind natürlich nicht die Pizza und der Burger, sondern, dass wir Möglichkeiten verlieren, die Welt zu denken. Auch wenn sich auf den ersten Blick die Lebenswelt und das Lebensverständnis eines indischen Geschäftsmannes fundamental von dem eines brasilianischen Minenarbeiters zu unterscheiden scheint, ist es doch inzwischen in fast allen Fällen die gleiche Metapher, der gleiche Filter, der gleiche Interpretations- und Referenzrahmen, der zwischen ihnen und dem Leben steht und damit ihr In-der-Welt-Sein und ihr Die-Welt-Denken formt. Dies ist an sich nicht tragisch, sondern zeigt einfach nur, dass wir unsere Kategorien, anhand derer wir Entscheidungen treffen, Menschen beurteilen, Investitionen tätigen und sogar Politik betreiben, immer weiter globalisieren.
Kogi-Indianer leben ganz ohne Geld?
Die Gefahr dabei ist, dass wir unsere Begrenzungen und Blockaden vereinheitlichen und nicht mehr als solche erkennen. Die blinden Flecken gedanklicher Systeme und Weltanschauungen befinden sich auf einer Metaebene, nämlich in den Grundannahmen. Solange wir aus dem System heraustreten können, ist Erkenntnis und Weiterentwicklung möglich. Jeder, der schon einmal Ski gelaufen ist, kennt das Gefühl, wenn er abends aus den schweren Skischuhen steigt und sich auf einmal ganz leicht fühlt. Dadurch, dass den ganzen Tag die Skischuhe getragen wurden, hat man vergessen, wie es sich anfühlt, wenn das Gewicht nicht an den Füßen hängt. Das Gleiche kann man beim Absetzen eines Rucksacks nach einer mehrstündigen Wanderung erleben. Wenn man jedoch in einer Gemeinschaft skischuhtragender Menschen mit Rucksäcken auf dem Rücken unterwegs ist, fällt irgendwann niemandem mehr auf, wie leicht es ohne sein könnte. Das Thema Geld zeigt dies anschaulich.
Gibt es eine Alternative?
Es gibt kein einziges Land mehr auf der Erde, in dem es kein Geld gibt. Dies führt dazu, dass wir mit wenigen Ausnahmen von klein auf lernen, weitverbreitete Ansichten über Geld zu denken, nach Geld zu streben, um unseren Lebensunterhalt zu sichern, die Familie durchzubringen, unseren Reichtum zu mehren oder auch einfach nur, um uns einen Wunsch zu erfüllen. Nun ist es jedoch so, dass vielen Menschen das Thema Geld nicht leicht fällt und dass ein gefühlter oder echter Mangel desselben einen Großteil ihrer Handlungen bestimmt. Wenn dies im gesamten Umfeld so ist, fällt es schwer sich vorzustellen, wie sich eine Alternative anfühlen würde.
Die Kogi-Indianer hingegen benutzen (fast) kein Geld, und somit bestimmen weitverbreitete Glaubenssätze bezüglich Geld auch ihre Denkstrukturen und Denkmuster nicht. Theoretisch war mir schon länger bewusst, welche Auswirkungen unsere Annahmen über die Welt, also unsere Glaubenssätze, auf unser Denken und auf unser Miteinander haben. Erfahren habe ich es jedoch erst wirklich beim Volk der Kogi-Indianer, da ich dort zum ersten Mal in meinem Leben in einer Umgebung mit wirklich völlig anderen Sichtweisen war. Anders als bei uns und in vielen anderen Ländern der Erde, gibt es kein Konzept von Karriere, das um Einkommen und den damit verbundenen sozialen Status kreist.
* * *
Werden wir jemals genug haben?
Im Laufe meines Aufenthalts bei den Kogi wurde ich oft gefragt: »Warum nehmt ihr mehr, als ihr für euch und eure Familie braucht? « Santiago, ein achtzehnjähriger Kogi-Indianer, fragte mich einmal unverhofft, während wir in der Abendsonne am Fluss saßen und uns unterhielten: »Wann ist genug für euch?«
Ich antwortete: »Ich verstehe nicht genau, was du meinst.«
Er sagte: »Wann habt ihr das Gefühl, dass ihr so viel besitzt, dass ihr einfach in Ruhe am Fluss sitzen und der Natur lauschen könnt? Oder denkt ihr immer, dass ihr zu wenig habt?«
Ich erzählte ihm ein wenig von mir, was ich für Träume habe und wie ich sie erreichen werde.
Er hakte daraufhin nach und erklärte: »Ich meine nicht nur dich, Lucas, sondern ich möchte wissen, was ihr jüngeren Brüder als ganzes darüber denkt.«
Ich fragte zurück: »Wieso denkst du, dass wir nur eine Meinung als ganzes darüber haben?«
Er sagte etwas belustigt: »Weil ihr gleich denkt. Wir nennen euch nicht umsonst die jüngeren Brüder, obwohl ihr verschiedene Sprachen sprecht und in verschiedenen Territorien lebt. Hier in Kolumbien bauen sie Minen, und du hast gesagt, dass es das auch bei euch in Deutschland gibt. Hier wollen die jüngeren Brüder Land kaufen und verkaufen und woanders auch. Ihr benutzt alle Geld und wollt immer mehr verdienen. Deswegen sagen wir, dass ihr gleich denkt.«
Kogi-Indianer sind dankbar für jeden Atemzug
Ich schwieg. Der junge Kogi-Indianer an meiner Seite hatte begriffen, was gedankliche Globalisierung bedeutet. Bisher hatte ich es auf Unkenntnis zurückgeführt, dass die Kogi-Indianer alle Nichtindianer als jüngere Brüder bezeichnen. Aber sie liegen richtig mit ihrem Verständnis, dass wir unsere Ansichten über die Welt und damit unsere Glaubenssätze vereinheitlicht haben. Wir schwiegen eine Weile und sahen zu, wie sich die Berge langsam in blaues Licht zu hüllen begannen. Er sagte leise: »Das, worum es geht, ist so einfach, dass ihr es überseht, und doch ist es jederzeit direkt vor euch. Es ist alles da.« Wir standen auf und gingen gemeinsam zu den wärmenden Feuern, dem Duft des Abendessens folgend ins Dorf.
Das Gefühl des Mangels und die daraus folgende Konsequenz des »Immer-Mehr« ist bei uns zur Normalität geworden. Nicht die Dankbarkeit für das, was da ist und was uns geschenkt wird. Natürlich gibt es auch Momente der Dankbarkeit, aber Dankbarkeit ist eben im Alltag meist nicht die Grundlage unseres Handelns. Die Kogi-Indianer sind dankbar für jeden Atemzug, für jeden Schluck Wasser und für jede Kartoffel. Sie geben dafür gedanklich und materiell etwas an die Erde zurück und sorgen so für Ausgleich. Dies beruht auf einem völlig anderen Verständnis. Wer ist denn noch wirklich dauerhaft dankbar für die Luft, die er atmet? Für die Kogi-Indianer ist Dankbarkeit Normalität, tägliches Tun, doch auch wir können sie wieder in unser Leben integrieren.
Ist es das, was wir unter “leben” verstehen?
Die Gefahr ist, dass wir unsere Normalität und unseren Alltag als Wirklichkeit im Sinne einer Alternativlosigkeit wahrnehmen. Somit sind wir die Gefangenen unserer eigenen Ideen und Konzepte, die wir für die Realität halten. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir das, was wir wahrnehmen, für die Wirklichkeit halten. Dabei vergessen wir jedoch, dass es nur unsere Wahrnehmungswelt ist. Theoretisch ist vielen Menschen vielleicht bewusst, dass es natürlich auch andere Möglichkeiten des Lebens, des In-der-Welt-Seins gibt. Grundsätzlich andere Arten, die Dinge zu sehen. Wenn wir dies jedoch nie erfahren, weil das, was wir in unserer Lebenswelt etwa in Form verschiedener politischer Ansichten für gedankliche Vielfalt halten, in zentralen Punkten auf den gleichen Grundannahmen beruht, dann bleibt die Möglichkeit des Anderen Spekulation.
Es bleibt das Thema der Philosophen, die in akademischen Elfenbeintürmen Utopien erdenken. Utopien, die dazu bestimmt scheinen, im Raum der unerfüllten und unerfüllbaren Träume zu bleiben. Für den Alltag haben sie wenig bis keine Relevanz. Dabei geht es nicht darum, so zu werden wie die Kogi-Indianer, sondern unsere eigenen Sichtweisen und unbewussten Dynamiken als bedingt und nicht als alternativlos zu erkennen. Kurt Tucholsky wird folgender Satz zugeschrieben: »Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern.« Er führt uns so vor Augen, wie unser Handeln seinen Grund und damit seinen Sinn verliert. Denn wenn es für ein bestimmtes Verhalten oder eine kulturelle Praktik keinen anderen Grund mehr gibt, als dass es alle machen, ist der Sinn verloren gegangen. Es gibt dann keine Geschichte, keine Erinnerung mehr.
Kleider machen Leute – ist das so?
Die Kogi-Indianer sagen, dass ein Volk ohne Erinnerung ein totes Volk sei. Sie beschreiben damit, was geschieht, wenn die komplexen Systeme der alltäglichen Handlungen ihren Sinn verloren haben und damit tote Handlungen geworden sind. Tot, weil sie nicht mehr sinnhaft sind, sondern sich zu Automatismen und nicht hinterfragten Systemen verselbstständigt haben. Sie folgen vielleicht noch Zielen; diese Ziele sind jedoch in keinen Sinn eingebettet. Wenn wir zum Beispiel nicht mehr wissen, warum die männliche Geschäftskleidung aus Anzug und Krawatte besteht, dann verlieren wir den Bezug zu diesen Dingen, und sie existieren nur noch als sinnentleerte Hüllen. Anzug und Krawatte gehören zur Etikette, aber warum, welche Verbindung stellen sie her? Noch deutlicher wird dies, wenn plötzlich auch Geschäftsleute in Indien in Anzug und Krawatte zur Arbeit gehen. Sie kopieren damit eine Äußerlichkeit, die absolut nichts mit ihnen zu tun hat.
Was für ein Bild wirft das auf unsere Handlungen?
Auch Unternehmen denken so und kopieren das äußerliche Verhalten der erfolgreichen anderen, ohne zu wissen, was eigentlich dahintersteht. Dabei ist es weniger wichtig, das »Warum« intellektuell begründen zu können, als es zu spüren. Viele dieser intellektuellen Begründungen können gleichfalls vollkommen sinnlos und künstlich sein. Wie so mancher Begleittext zu einem optisch nicht direkt überzeugenden Werk moderner Kunst. Dieser Mangel an Sinngefühl und Erinnerung unterscheidet uns vom Volk der Kogi-Indianer.
Für uns ist es sogar zur Normalität geworden, »Sinnfindung« zu betreiben. Ein Gedanke, der so absurd ist, dass wir ihn uns einmal auf der Zunge zergehen lassen sollten. Wenn wir den Sinn erst noch finden müssen, haben wir dann unser ganzes bisheriges Leben sinnfrei oder sinnlos gelebt? Was für ein Bild wirft das auf unsere Handlungen? Um unsere Moderne als Alltäglichkeit zu erkennen und von der Wirklichkeit zu unterscheiden, ist es notwendig, aus ihr heraustreten zu können. Das Gleiche gilt auch für die aus ihr abgeleiteten Lebensbereiche wie Business, Familie, Gesundheit, Erfolg usw. Nur so wird unsere Weise, die Welt zu sehen, als relativ und begrenzt erfahrbar. Ursprünglich lebende Naturvölker stellen heute eine der wenigen Formen von Mentalitätsinseln dar, die die steigenden Wasserstände der gedanklichen globalen Uniformität auf diesem Planeten hinterlassen haben. Sie sind das wenige »Außerhalb«, das uns geblieben ist.
Der wahre Reichtum der Kogi-Indianer
Anders, als vielen anderen Naturvölkern, ist es dem Kogi-Indianer gelungen, ihre Ursprünglichkeit in einem hohen Maße zu erhalten und Verwässerungen durch die kolumbianische Mehrheitsgesellschaft gering zuhalten. Genau darin liegt der unglaubliche Reichtum für uns. Hier ist eine der letzten Möglichkeiten, die Lebenswelt eines Volkes zu erleben, deren Gedankenwelt nicht vom Paradigma der Moderne beherrscht wird. Sie kennen weder Geld noch Industrie, noch Märkte oder Staaten und haben somit auch nicht die damit einhergehenden gedanklichen Blockaden und Begrenzungen.
Gleichzeitig haben sie in ihrem Denken ganze Erkenntnisbereiche bewahrt, die es bei uns mit größter Wahrscheinlichkeit auch gab, die aber inzwischen vergessen worden sind. Dieser doppelte Reichtum, nicht durch das Übliche blockiert zu sein und sich gleichzeitig an Ursprüngliches zu erinnern, ist es, was wir in den nächsten Jahren immer mehr zu schätzen lernen werden. Gerade erst erhalten wir eine Ahnung, welche Innovationsmöglichkeiten und Lösungen dies bereithält. Doch zuerst möchte ich erzählen, wie wir zu ihnen kamen. (Buchauszug Ende)
Interview mit Lucas Buchholz
Über den Autor
Lucas Buchholz, Jahrgang 1989, hat nach seinem Schulabschluss in England ein Jahr lang Südamerika bereist, bevor er Friedens- und Konfliktforschung studierte. Er hat in Mosambik, Jordanien und Pakistan gearbeitet und mehrere Monate beim Volk der Kogi-Indianer in Kolumbien verbracht. Heute hält er Seminare und Vorträge zum Thema: Anwendung der Weisheit der Naturvölker auf unsere heutige Welt; und derzeit führt er Co-Regie an einem Kino-Dokumentarfilm zu einem neuen Verständnis von Erfolg, für das die Kogi-Indianer eine wichtige Rolle spielen.
Buchtipp: Kogi – Wie ein Naturvolk unsere moderne Welt inspiriert
von Lucas Buchholz
Jetzt auf maona.tv – der TV-Sender mit Sinn
-> Kogi-Indianer…
…. eine Darstellung, die mich sehr zum Nachdenken gebracht hat. Es ist für mich eine innerliche Freude, solche Inhalte zur Kenntnis zu bekommen.
Vielen Dank für das schöne Feedback!