Es soll an die Wurzel gehen, dahin wo es weh tut. Deshalb zu Beginn eine provokante Frage: Ist Vergebung im absoluten, erwachten Sinne überhaupt möglich, wenn die alten Weisheitstraditionen uns lehren, dass es weder Schuld noch Unschuld gibt?
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Alles geschieht, weil es geschieht. Bedingungslose Liebe bedeutet, dass die Unterscheidung von Gut und Böse lediglich ein menschliches Konzept ist. Geboren aus unserem Ego, welches den Drang – aber auch die Aufgabe hat, alles in Richtig und Falsch einzuteilen. Das Ziel einer wirklich erwachten und erlösten Menschheit ist bedingungslose Liebe. Alle Religionen und spirituellen Wege sprechen davon. Einssein mit allem. Und das schließt wirklich alles und alle mit ein, auch den Mörder. Bedingungslos heißt tatsächlich bedingungslos. Ebenso wie eine Mutter ihr Kind im besten Falle ohne Einschränkung bis an das Lebensende liebt, ganz egal was es tut.
Es ist zunächst hilfreich zu erkennen, dass niemand auf der absoluten Ebene etwas dafür kann, dass er sich verhält, wie er sich verhält. Wir sind das Produkt der Evolution, unserer Gene, und eben auch der Konditionierungen und Traumatisierungen, welche wir im Leben, meist besonders stark in unserer Kindheit, erfahren haben. Mein geschätzter Kollege Rupert Sheldrake geht davon aus, dass diese Erfahrungen in einem kollektiven Raum gespeichert werden: dem sogenannten morphogenetischen Feld, auf das alle Menschen mehr oder minder bewusst zugreifen.
Reflektierendes Bewusstsein ist am Ende absolute Gnade
Ob jemand in der Lage ist, sein eigenes Verhalten weitsichtig zu reflektieren, das kann er kaum selbst beeinflussen. Manch einer kann es sein ganzes Leben nicht. Wir alle kennen solche Menschen. Vielleicht sind wir selbst ein solcher Mensch? Wie sollte man sich da ganz sicher sein?
Eins steht fest. Der Grad der eigenen Reflektionsfähigkeit schwankt stark, und ist oftmals nicht nur abhängig von der Tagesform, sondern auch davon, wie stark uns das hinter einem Konflikt liegende Thema emotional bewegt. Hinzu kommt, dass der menschliche Verstand im Laufe der Evolution eine Vielzahl von Wahrnehmungsverzerrungen hervorgebracht hat, denen wir täglich ausgesetzt sind. Etwa 120 dieser sogenannten kognitiven Verzerrungen (cognitive bias oder cognitive illusions) sind nachgewiesen und erforscht. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr davon. Wer oder was gibt uns somit das Recht, irgendjemanden für seine Unbewusstheit und das daraus resultierende Verhalten zu verurteilen, geschweige denn im Anschluss Vergebung zu gewähren?
Die Grundstruktur des Egos durchschauen
In der spirituellen Welt gilt das Bewerten als egogetrieben. Das ist es auch, denn genau dafür ist unser Ego da. Es soll und muss uns im Alltag darin unterstützen, unser Überleben sicherzustellen, und dafür muss es Bewertungen vornehmen. Anders ist menschliches Leben nicht möglich. Um zu entscheiden, ob ich mich von biologischen Lebensmitteln aus der Region oder von Fastfood ernähre, muss ich eine wertende Entscheidung fällen. Ich ordne das Eine als gesund, und das Andere als schädlich ein. Diese Form der Bewertung ist notwendig, um das Leben zu organisieren und den Alltag bewältigen zu können. Bewerten ist erst einmal nur eine Methode. Sie ist ein Werkzeug. Werkzeuge kann man hilfreich oder weniger hilfreich einsetzen. Man kann Werkzeuge auch missbräuchlich einsetzen.
Das Werkzeug an sich ist im Grunde jedoch neutral. Es soll eine Funktion erfüllen, mehr nicht.
Wir Menschen vereinbaren durch unsere Normen und Werte bestimmte Verhaltensweisen als gut und andere als schlecht. Diese Vereinbarungen sind nichts anderes als Hilfskonzepte. Doch sie sind nützlich und notwendig. Anders würde menschliches Leben in Gesellschaften nicht funktionieren. So hat auch die Bewertung von Schuld und Unschuld im Alltag durchaus einen funktionellen Sinn. Allerdings liegt auch hier das Problem. Im Konfliktfalle kommen Emotionen wie Enttäuschung, Empörung, Wut, Verzweiflung, und so weiter hinzu. Diese wirken wir ein Brandbeschleuniger auf unser Ego und bringen es dazu, die eigene Bewertung quasi fest zu zementieren.
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Ein ruhiger Geist ist die Basis allen Handelns
Es liegt auf der Hand, dass es in der „heißen Phase“ eines Konfliktes wenig Sinn macht, über Vergebung nachzudenken. Alle Kraft sollte zunächst dafür aufgebracht werden, die Situation mit Abstand betrachten zu können. Es muss ein gewisses Maß an Achtsamkeit und Objektivität hergestellt werden. Im Buddhismus wird dies samma ditthi genannt, was übersetzt so viel bedeutet wie „rechte Einsicht“. Diese ist Teil des Achtfachen Pfades und ein zentrales Element der buddhistischen Lehre. Alles Handeln soll auf einer „rechten Einsicht“ beruhen, die nur aus einem ruhigen und objektiven Geist entstehen kann. Ideal wäre, wenn man es zusätzlich schafft, die Position des Gegenübers einzunehmen, ohne ihm schlechtere Motive zu unterstellen, als man selbst sie hat. Gerade der Buddhismus empfiehlt, dass man die Dinge von allen Seiten betrachtet. Ja, selbst wenn das gegenüber ein Mörder wäre. Klingt schwer, ist es auch. Das war allerdings noch nicht einmal der härteste Teil daran.
Wie kann ich Verletzungen überwinden und meinem Gegenüber verzeihen?
Der heilsamste Weg hierzu ist die sogenannte radikale Akzeptanz. Ein Weg, der seit Jahrtausenden in den spirituellen Traditionen beschrieben wird, den auch die moderne Psychologie und die Neurowissenschaften anerkannt haben. Es gibt sehr erfolgreiche Therapien, die auf dem Konzept der radikalen Akzeptanz beruhen. Die amerikanische Psychologieprofessorin Marsha Linehan ist eine der führenden und weltweit anerkannten Kapazitäten auf diesem Gebiet. Daneben ist sie auch Zen-Meisterin. Mit der von ihr, auf Grundlage dieser spirituellen Übung entwickelten DBT-Therapie, gelang es ihr nicht nur die Selbstmord-rate von Borderline-Patienten radikal zu senken, sondern überhaupt eine der wenigen Therapien auf diesem Gebieten zu etablieren, und dabei auch noch eine Heilungsquote von 60 bis 70 Prozent zu erreichen.
Sie selbst sagt dazu:
„Radikale Akzeptanz ist der einzige Weg, der aus der Hölle führt – sie bedeutet, den Kampf gegen die Realität sein zu lassen. Akzeptanz ist der Weg, der unerträgliches Leiden in einen erträglichen Schmerz verwandelt.“
Wer radikale Akzeptanz über das, was ist, ausübt – und das ist nichts anderes als bedingungslose Liebe – der braucht nichts mehr zu vergeben. Er hat das Konzept von Schuld und Unschuld nicht durchbrochen, indem er es ablehnt. Er hat es auf liebevolle Weise integriert. Damit lebt er aktive Vergebung – und das, ohne sein Gegenüber zum Sünder zu machen. Das bedeutet nicht, dass man alles tatenlos über sich ergehen lassen sollte. Ganz im Gegenteil. Radikale Akzeptanz bedeutet nicht Passivität. Ja, das ist in gewisser Hinsicht ein Paradoxon. Es gibt viele Bücher und andere Artikel dazu. Es lohnt sich, zu diesem Thema zu recherchieren.
Wie gesagt, es ist paradox und im Grunde auf rationaler Ebene kaum zu begreifen. Für eine tiefe Erfahrung dieses Weges bedarf es der Herz-ebene, und hier zeigt sich der wahre Sinn unserer Gefühle und Emotionen: Dinge wahrzunehmen, die unsere Ratio alleine nicht erfassen kann.
Radikale Akzeptanz ist der Schlüssel, auf dessen Basis man handeln und aktiv werden kann. Es gibt viele Formen, mit einer akzeptierenden Haltung einem sogenannten Unrecht zu begegnen. Gandhi hat auf diese Weise Indien befreit. Es gäbe viele weitere Beispiele. Man darf freundlich mit sich sein, wenn es schwer fällt, die Dinge anzunehmen, wie sie gerade sind. Erst recht dann, wenn man das Gefühl hat, dass einem übel mitgespielt wurde. Das Wunderbare aber ist: Wenn man es wirklich schafft, in diese akzeptierende Haltung zu kommen, ohne den anderen oder die Situation verändern zu wollen, dann kann sich auch beim Gegenüber etwas lösen und zum Guten wenden.
Auch wenn dies seine Zeit brauchen mag. Versuchen wir, den Weg der radikalen Akzeptanz als einen Prozess, einen Weg zu begreifen, der ein ganzes Leben lang anhält. Wenn man es schafft, sich immer wieder daran zu erinnern, dass es genau darum geht, auch das vermeintlich Schlechte, oder sogar das Böse, das einem geschieht, anzunehmen, dann ist alles gut. Und wenn nicht, dann auch. Wie heißt es so schön: „Buddha saß auch bis zum Schluss.“
Weitere Beiträge von Dieter Broers findest du bei uns in der HORIZONWORLD.
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