Schule, Ausbildung, Beruf und dann kommt auch noch der private Stress dazu. Tagtäglich stellt uns das Leben vor große und kleine Herausforderungen, die wir zu meistern haben. Da kommen wir nicht drumherum, es gibt Dinge, die wir zu erledigen haben, aber warum genau dann, wenn es jemand von uns erwartet? Wir sind doch mittlerweile gesellschaftlich als auch technologisch in der Lage, die alltäglichen Pflichten unserem Tagesplan anzupassen, trotzdem machen wir es genau andersherum. Warum stressen wir uns so sehr, dass manche sogar schwer krank werden? Wäre es nicht besser für uns alle, wenn wir einen Gang zurückzuschalten? Wir begeben uns auf die Suche nach Antworten, warum eine freie Zeiteinteilung keine Utopie bleiben sollte und wie uns die Prokrastination dabei helfen kann.
Ist Prokrastination gut oder schlecht für uns?
Prokrastination definiert das Verhalten, Aufgaben aller Art trotz vorhandener Zeit und Fähigkeit vor sich herzuschieben. Der Begriff ist in unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft selbstverständlich negativ behaftet, allein deshalb sollten wir mehr prokratinieren. Wie dem auch sei, im besten Fall arbeiten wir jeden Tag und nicht zu wenig, immerhin gibt es immer was zu tun. Beschäftigt man sich etwas intensiver mit dem Thema Prokrastination, findet man viele Tipps und Tricks von mehr oder weniger professionellen Life-Coaches, die diesem verdorbenen Verhalten den Garaus machen wollen. Aber warum sollte das Aufschieben von Tätigkeiten etwas derartig Schlechtes sein, dass man sofort damit aufhören muss? Immerhin entscheidet man sich selbst dazu, etwas zu machen oder nicht. Ist das nicht ein Teil unserer Freiheit, die wir uns um jeden Preis bewahren sollten? Wo liegt der Ursprung des Ganzen und ist der limitierende Gedanke, sich wie eine Maschine an einen festgesetzten Takt zu halten, zeitgerecht oder überhaupt gut für uns?
Der amerikanische Philosoph und Buchautor John Perry würde die zweite Frage mit einem „Nein“ beantworten. Für seine Antwort gibt es viele Gründe, wir beziehen uns mal auf die grundlegendsten. Prokrastination hat nichts mit Faulheit oder fehlender Organisation zu tun, ganz im Gegenteil, denn man macht etwas, nur nicht das, was eigentlich zu erledigen ist. Es ist eine alternative Art der Entschleunigung, eine Methode, um Ruhe und Frieden im stressigen Alltag zu finden. Das ist auch dringend notwendig, denn Stress nimmt Überhand und macht uns auf lange Sicht krank. Der Leistungsdruck der modernen Welt stresst uns mittlerweile so sehr, dass wir die uns auferlegten Aufgaben sogar meist vor dem eigentlichen Abgabetermin erledigen, koste es, was es wolle. Das eingedeutschte Wort für Abgabetermin „Deadline“ klingt ebenfalls nicht stressmindernd. Dabei ist das sture Einhalten von Deadlines nachweislich destruktiv für unsere Kreativität, denn selbst der kreativste Mensch kann nichts schaffen, wenn man ihm keine Zeit lässt.
Unser anhaltendes Streben, alles zu vorgegebener Zeit zu erledigen, ist ein toxisches Überbleibsel vergangener Tage. Werfen wir einen Blick zurück in den Büroalltag von vor etwa 30 Jahren. Damals war es einfach nicht möglich, Dokumente zu jederzeit auf einen Server hochzuladen oder Konferenzen online abzuhalten. Auf jedem Schreibtisch stand eine Schreibmaschine, auf der alles so schnell abgetippt wurde, dass der Chef noch vor seinem Feierabend einen Blick darauf werfen konnte. Die Technik hat große Schritte nach vorne gemacht, das starre Arbeitsleben hinkt dem Fortschritt langsam hinterher, unverändert bleibt aber der seit der Schulzeit manifestierte Gedanke, dass an einem vorgegebenen Stichtag alles fertig sein muss. Erreicht man das Ziel nicht zeitgerecht, hagelt es Rüge und schlechte Bewertungen, egal wie viel gesammelte Lebenserfahrung oder unbekanntes Wissen man hinter die Ziellinie tragen würde.
Die Zeichen des Wandels
Allgemein gibt es viel berechtigte Kritik an das staatliche Schulsystem. Ein oft genannter Punkt ist, dass unser Nachwuchs kaum bis gar nicht kreativ gefördert wird. Freiraum für Entfaltung oder eine freie Zeiteinteilung scheinen im festgefahrenen Schulwesen unnötig, obwohl es die grundlegenden Fähigkeiten für das spätere Leben sind. Außerdem werden die Kinder auf einen Arbeitsalltag vorbereitet, der immer weniger die Realität widerspiegelt. Die Corona-Zeit hatte wirklich nicht viel Gutes, allerdings fand das Homeoffice endlich mehr Beachtung und viele Angestellte würden sich wünschen, dieses Arbeitsverhältnis beizubehalten. Die Heimarbeit brachte ein Hauch von Freiheit, die im strikten Arbeitsleben bisher nichts zu suchen hatte. Zudem steigt die Zahl der Selbstständigen in freien Berufen seit mehr als 30 Jahren stetig an.
Die Zeichen sind eindeutig, die Leute wollen selbstbestimmter leben und ihr eigener Chef sein. Homeoffice macht das noch nicht komplett möglich, aber es erlaubt deutlich mehr Freiheiten. So spannen wir den Bogen wieder zurück zum positiven Effekt der Prokrastination. Studien zeigen, dass im Homeoffice mehr geleistet wurde als zuvor im Büro. Nun könnte man mehr Belastung und Stress vermuten, das Gegenteil ist aber der Fall. Es wurde produktiver, effektiver als auch kreativer gearbeitet, gleichzeitig waren die Menschen glücklicher mit sich und ihrer Arbeit.
Ein entscheidender Faktor ist, dass nach eigener Zeiteinteilung gearbeitet werden konnte. Das hat es erlaubt, erst mit der Arbeit zu beginnen, wenn der Körper bereit dazu war und nicht dann, wenn der Wecker klingelt. Zudem gab es immer wieder kurze Ruhepausen, wenn unser Kopf eine brauchte. Diese Pausen werden aber gleichzeitig als zeitverschwenderische Prokrastination und somit als schlecht für uns als auch für die Arbeit beschrieben. Hier wird klar, dass etwas nicht ganz zusammenpasst. Prokrastination verlangt Zeit, das stimmt, aber haben wir heutzutage nicht alle Zeit der Welt? Außerdem gleicht sich der größere Zeitaufwand durch die erhöhte Effektivität umgehend wieder aus. Der letzte Vorteil, der vor allem uns zugutekommt, ist, dass Stress reduziert wird, obwohl, und das wird auch oft vergessen, wir viele andere Dinge erledigen.
Habe Mut und werde Dein eigener Meister
Man kann nicht nichts machen, denn selbst wenn wir schlafen, arbeitet unser Körper. Durch Regeneration erlangen wir neue Energie und Kraft, die wir dann in pure Produktivität umwandeln können. Ein Powernap, ein kurzer Spaziergang an der frischen Luft, für fünf Minuten die Augen schließen oder aufweckende Atemübungen machen unseren Kopf frei, damit wir kurz danach konzentriert weiterarbeiten können. Am Nachmittag muss eine Präsentation fertig sein, da kann man locker die verwüstete Wohnung aufräumen und nach einem gesunden Mittagessen anfangen.
Das alles ist die scheinbar böse Prokrastination. Sieht man seinen vollgepackten Alltag als eine To-Do-Liste an, werden durch Prokrastination viele Kleinigkeiten von der Liste gestrichen, welche gerade besser in unseren Tagesablauf passen als das scheinbar Wichtigste, wozu aber gerade kein Nerv da ist. Prokrastination bedeutet demnach, dass man sein eigener Chef ist und sich die Arbeit frei einteilt, dass man privat als auch beruflich viel schafft. Es ist durchaus möglich, effektiv prokrastinieren – John Perry, der bereits zuvor genannt wurde, ist Professor für Philosophie an der Stanford University und geht als gutes Beispiel voran.
Der Jean-Nicod-Preisträger macht auf zwei Dinge aufmerksam, von denen sich viele Hamsterradläufer eine Scheibe abschneiden könnten. Zum einen ist es möglich, produktiv zu prokrastinieren, wenn man erkennt, dass man durch das Aufschieben einer Sache viele andere Pflichten erledigt. Das macht uns gesund, glücklich und zufrieden, denn Produktivität regt die Ausschüttung der Glückshormone an. Zum anderen zeigt er, dass man sich selbst nicht an seinen Defiziten und Fehlschlägen, sondern an dem Geschaffenen messen sollte. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir uns von den gesellschaftlichen Zwängen und Doktrinen loslösen, die uns bisher durch das Leben gejagt haben. Es kann allgemein nichts Schlechtes sein, das Leben mit all seinen Herausforderungen ein wenig entspannter anzugehen und den Fokus mehr auf die wirklich wichtigen Dinge zu richten.
„Was du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen, denn was du heute kannst erleben, kann dir morgen keiner geben.“ – Autor unbekannt
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