Zwölftklässlerin Lilly Blaudszun geht in Ludwigslust auf das Gymnasium. In diesem aufrüttelnden Artikel berichtet die 17-Jährige über den Leistungsdruck, fehlende Freizeit und Aufputschmittel im Klassenzimmer.
Kaum Zeit für Außerschulisches
Wenn ich am Montagmorgen aufstehe und mich auf den Weg zu meinem Gymnasium in Ludwigslust mache, erwartet mich eine 38-Stunden-Woche mit bis zu zwölf Tests und zwei Klausuren. Plus Hausaufgaben. Zudem muss ich für Klausuren lernen und Vorträge vorbereiten. Wir Schüler fungieren als Manager einer Ich-AG, versuchen, nebenbei noch irgendwo soziales Engagement, Sport, Familie, Hobbys und Freunde unterzubringen.
Als ich vor elf Jahren anfing, in die Schule zu gehen, war ich neugierig und wissbegierig. Ich wollte alles lernen und das möglichst schnell. Damals habe ich nicht geahnt, wie Schule einmal werden würde und was sie mit uns macht.
Nicht nur mein Leben außerhalb der Schule leidet heute, auch das Leben in der Schule und Angebote neben dem regulären Unterricht kommen zu kurz. Ob Chor, Jugendrotkreuz oder Sport-AG, ich habe – genau wie meine Mitschüler – einfach kaum Zeit dafür. Es ist schwierig, einen gemeinsamen Termin zu finden oder überhaupt Zeit freizuräumen. Auch Sportvereinen laufen die Mitglieder davon, viele führen das auf den Zeitmangel seit der Schulreform zu G8 zurück.
Unter G8 schließen Schüler das Abi nach zwölf statt 13 Jahren ab. Die Reform wurde in den letzten Jahren in allen Ländern einzeln durchgesetzt, heute ist das G8/G9-System so unübersichtlich wie der Rest des föderalen Bildungssystems. Während es in einigen Ländern wie Hessen beide Schulformen gibt, setzen andere wie Niedersachsen und Bayern bereits eine Rückkehr zu G9 an. In Mecklenburg-Vorpommern gibt es derzeit nur G8 und damit nur acht Jahre Zeit fürs Abi. Zu wenig Zeit.
Druck ist Dauerzustand
Vielleicht hätte ich gern Zeichnen gelernt, vielleicht hätte meine beste Freundin länger Klavier gespielt oder der beste Sportler unseres Jahrgangs lieber nie mit Leichtathletik aufgehört. Druck und Zeitmangel in der Oberstufe verbieten uns das jedoch.
Klar, ein wenig Leistungsdruck ist manchmal nicht schlecht. Er kann uns motivieren, mehr aus uns herauszuholen. Gesunder Leistungsdruck – von mir selbst und von außerhalb – bringt mich dazu, mehr aus mir zu machen, als wenn mir und anderen meine Leistung egal ist. Aber darum geht es hier gar nicht mehr, denn der Druck ist seit der Schulreform ein Dauerzustand. Es geht schon lange nicht mehr um ein kleines bisschen mehr Ansporn, es geht darum, dass Jugendliche mit 17 Jahren schon kaputt sind, bevor sie überhaupt erst richtig mit ihrem Leben angefangen haben. Und das ist manchmal echt schwer auszuhalten.
Wie funktioniert die Welt?
Wir sind in einem Alter, in dem es darum geht, wer wir sind und was wir sein wollen. Wir müssen uns selbst erkunden und finden und unsere Identität aufbauen. Stattdessen rennen wir von der einen Klausur zur Studienorientierung zur Agentur für Arbeit, und versuchen verzweifelt, irgendwie unseren Weg durch dieses Zukunftschaos zu finden.
Ich weiß nicht, wie die Welt draußen funktioniert, wenn ich mit dem Studium anfange. Ich habe keine Ahnung von Steuern, Miete, Studienfinanzierung oder Versicherungen, die Schule bringt uns das nicht bei. Alles, was da kommt, müssen wir uns später selbst ergoogeln, wenn unsere Familie oder Freunde auch nichts darüber wissen. Warum werden wir Schüler eher zu funktionierenden Arbeitskräften ausgebildet als zu kritisch denkenden Menschen?
Wir müssen nicht nur viel schneller und unter höherem Druck lernen, auch die Qualität der Bildung leidet. Die Umstellung von G9 zu G8 erforderte, dass die Lehrpläne geschmälert wurden. Insgesamt habe ich als Schülerin im G8-System rund 180 Stunden weniger Mathe und 200 Stunden weniger Englisch in meiner Schulzeit.
Problematisch ist vor allem, dass die Zeit für Übungsstunden wegfällt. Beginnen wir in Mathe ein neues Thema, wird uns zügig der Stoff vermittelt, darauf folgt eine Beispielaufgabe – wenn es zeitlich gut läuft, sind es zwei – und dann müssen wir schon mit dem nächsten Thema beginnen. Zeit, das Gelernte zu üben, haben wir schon lange nicht mehr. Die Lehrer wissen selbst nicht, wie sie die vorgegebenen Inhalte in so kurzer Zeit vermitteln sollen und das bestenfalls so, dass jede und jeder in der Klasse ihn versteht.
Drogen, um fit zu sein
Nicht alle können da mithalten. Einige helfen nach. Schüler aus meiner Stufe nehmen in der Woche Drogen, um sich leistungsfähiger zu machen, weil sie den Stoff nicht mehr packen. „Nur ein bisschen Speed, um zum Lernen wach zu bleiben.“
Die meisten in meinem Umfeld schotten sich von so gut wie allem ab, schlafen viel zu wenig und halten sich mit Kaffee und Energydrinks am Laufen. Sie haben Angst, sich selbst und ihrem Umfeld nicht gerecht zu werden, den Anforderungen nicht zu entsprechen. Wollen ihre Eltern und deren Erwartungen nicht enttäuschen, bei Klausuren nicht versagen und sich nicht ihre Zukunft verbauen. Bildung 2018 macht viele Schüler so auch körperlich kaputt. Toll gemacht, liebe Regierung.
Nach elf Jahren Schule, sieben Jahren G8 in Mecklenburg-Vorpommern weiß ich: Die Reform des Bildungssystems ist gescheitert. Ich habe – wie viele meiner Mitschüler – keine Lust mehr, dass Leistungsdruck mein Leben bestimmt. Ich will nicht mehr, dass Schüler aufgrund von Bildung zusammenbrechen.
Erstmal nur weg vom Stress
Das Erste, das die meisten Schüler meines Jahrgangs nach ihrem Abschluss wohl machen werden, ist wegzugehen. Wir wollen lernen, uns in der Welt zu orientieren. Abhauen in ein anderes Land, weg von Druck und Stress. Versuchen, für eine Zeitlang Abstand von Schule und Lernen zu nehmen. Also dem, was ein Großteil der Gesellschaft momentan unter Lernen versteht.
Dort werden viele von uns anderes lernen: selbstständig Entscheidungen über ihr Leben und ihre Zeit zu treffen, kritisch Vorgaben zu hinterfragen, selbst Prioritäten zu setzen und ihren Interessen nachzugehen. Ich selbst werde nur den Sommer über weggehen, weil ich das Gefühl habe, dass ich es mir zeitlich nicht leisten kann, ein Jahr Pause zu machen.
Hört auf mit dem Reinprügeln, Auswendiglernen, der verdammten Effizienz und gebt uns endlich die Möglichkeit, unser Leben zu leben. Revolutioniert das Bildungssystem, schnell oder „die Zukunft unseres Landes“ wird kaputt sein, bevor sie überhaupt erst richtig angefangen hat. Und genau die wolltet ihr doch fördern, oder?
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Zur Autorin
Lilly Blaudszun ist stellvertretende Landesvorsitzende der SPD-Nachwuchsorganisation „Jusos“ in Mecklenburg-Vorpommern. Den Beitrag hat sie ursprünglich als Gastbeitrag für die Ostsee-Zeitung verfasst.