“Wir befinden uns in einer Biodiversitätskrise. Arten sterben schneller aus als je zuvor in den 65 Millionen Jahren seit der Auslöschung der Dinosaurier durch einen Meteoriten. Und es geht immer schneller,” warnt der Biologieprofessor der Universität Sussex, Dave Goulson, der vorwiegend zu Insekten forscht. Kann sich die EU noch vom Pestizideinsatz in Europa lösen, bevor es zu spät ist?
Aktuell mehr als 400 verschiedene Ackergifte zugelassen
Das Problem mit dem Pestizideinsatz in Europa ist schon lange ein heiß umstrittenes Thema. Anstatt der Gebrauch aber zurückgeht, können wir das genaue Gegenteil beobachten. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hat die Menge der für agrarische Zwecke vermarkteten Pestizide kontinuierlich zugenommen. Allein in Europa werden jährlich rund 200.000 Tonnen „Pflanzenschutzmittel“ verwendet. Von 2005 bis 2010 etwa ist der Umsatz dieser Chemikalien auf dem Weltmarkt von $31 Milliarden auf $38 Milliarden angestiegen. Im Vergleich zu 1950 ist die Menge der eingesetzten Pestizide sogar um das Fünfzigfache gestiegen.
Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Umweltbehörde der USA (EPA) oder die Europäische Union klassifizieren Pestizide gemäß ihrem Gefahrenpotenzial. So teilt die WHO Pestizide zum Beispiel in fünf Gefahrstoffklassen ein: von extrem gefährlich (Klasse Ia) über geringfügig gefährlich (Klasse III) bis wahrscheinlich ungefährlich (Klasse U). Diese Klassifizierungen sind international anerkannt und wurden vom Pestizid Aktions-Netzwerk e. V. (PAN) verwendet, um eine Liste hochgefährlicher Pestizide zu erstellen.
Das Ergebnis: Weltweit werden rund 400 hochgefährliche Pestizid-Wirkstoffe vermarktet. Eine Studie [1] des PAN hat außerdem offenbart, dass die Konzerne BASF, Bayer und Syngenta, die gemeinsam fast die Hälfte des Pestizid-Weltmarktes kontrollieren, auf ihren Websites jeweils mehr als 50 Pestizide mit hochgefährlichen Wirkstoffen anbieten.
Pestizideinsatz in Europa – Initiative fordert, Pestizide zu verbieten
Dass dieser enorme Gebrauch von Pestiziden das Artensterben beschleunigt, wird bisher nur wenig thematisiert. Nun formiert sich jedoch Widerstand und europäische Bürger und Bürgerinnen fordern ein Verbot der giftigen Chemikalien. Die Initiative „Rettet Bienen und Bauern!“ wurde von mehr als einer Million Menschen unterschrieben und fordert, den Einsatz chemischer Pestizide bis zum Jahr 2035 zu beenden. Auch erste Gemeinen innerhalb Europas versuchen bereits, die Landwirtschaft in ihren Regionen neu zu formieren. Für die Landwirte gibt es jedoch ein essenzielles Problem. Für sie mangelt es nach wie vor an bezahlbaren Alternativen zu herkömmlichen Ackergiften.

Auch die EU-Kommission befasst sich derweil mit dem Pestizidproblem und will den Pestizideinsatz innerhalb der EU im Rahmen ihrer „Farm to Fork“-Strategie bis 2030 halbieren. Klimakommissar Frans Timmermans legte deshalb Mitte Juni 2022 einen Vorschlag für eine Verordnung vor. Dies wäre das erste EU-Gesetz, welches Landwirte zu nachhaltigerem Wirtschaften verpflichtet.
Ukraine-Krieg als Vorwand für den Pestizideinsatz in Europa
Klingt vielversprechend, allerdings regt sich auch hier natürlich Widerstand. In Brüssel etwa haben Chemiekonzerne und Agrarlobby in den vergangenen Jahren eine Gegenbewegung formiert. Bestehend aus konservativen Politikerinnen und Politikern kämpft diese Bewegung dafür, dass Bauern die Ackergifte weiterhin uneingeschränkt nutzen dürfen. Als Hauptargument für die Nutzung der Gifte nutzt die Bewegung unter anderem den Ukrainekrieg für sich. Denn die Abschaffung vom Pestizideinsatz in Europa würde zu geringeren Ernteerträgen führen, was in einer Zeit, in der die weltweite Nahrungssicherheit durch einen Krieg gefährdet sei, zu riskant wäre.
Wissenschaftler hingegen sind sich einig: Jetzt ist die Zeit, in welcher wir beginnen müssen, weniger Pestizide zu verwenden, um das enorme Artensterben zu bremsen. Wenn wir so weitermachen, ist die Nahrungssicherheit der gesamten Menschheitin Gefahr. Da ist sich der Insektenforscher des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung, Josef Settele sicher.
Studie offenbart: erschreckende Belastung von Hausstaub mit Pestiziden
Eine weitere Studie [2], im Auftrag der europäischen Bürgerinitiative “save bees and farmers” hat darüber hinaus ergeben, dass sich sogar eine erschreckende Belastung von Hausstaub durch den Pestizideinsatz in Europa in ländlichen Gebieten beobachten lässt. Innerhalb der Studie wurde der Hausstaub aus Schlafzimmern von Bürgern in 21 EU-Mitgliedsstaaten untersucht. Diese Haushalte befanden sich alle in unmittelbarer Nähe von intensiv landwirtschaftlich genutzten Gebieten.
Alle Proben enthielten Pestizidrückstände, durchschnittlich acht verschiedene Wirkstoffe pro Probe. Der höchste Wert jedoch wurde in Belgien gefunden – mit 23 Wirkstoffen pro Probe. Unter diesen Proben fanden sich auch gefährliche Pestizide, die den Hormonhaushalt beeinflussen, Krebs hervorrufen können oder die Fortpflanzung beeinträchtigen.
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