In der Juli-Ausgabe des SEIN-Magazins erscheint ein Interview von Monika Radha Hickstein mit dem Satsang-Lehrer Karim Abedi, der auf eine regelmäßige und langjährige “Sitz”- und Meditationserfahrung zurückgreifen kann. Seine Antworten sind wie kleine “Sahnehäubchen”…
Karim, seit mehreren Jahren schon sitzt du fast täglich mit deinen Besuchern in Stille, in Meditation. Was bedeutet es dir, warum tust du das?
Das tägliche Sitzen ist so ziemlich die einzige Sache in meinem Leben, bei der ich nicht nach dem „Warum“ frage, obwohl es eines der härtesten Dinge ist, die ich je getan habe. Und es gab einige harte Dinge in meinem Leben, du kennst meine Geschichte! Sich der regelmäßigen Praxis zu unterwerfen, ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten und Launen, ist der absolute Suchtkiller! Ich liebe das Sitzen über alles und verspüre unendliche Dankbarkeit, dass ich mich jeden Tag mit Menschen treffen darf, die die kontinuierliche Praxis ebenso schätzen wie ich. Was für eine Schönheit: die Schönheit des Moments, die Schönheit, einfach du selbst zu sein und nicht unter der Fuchtel des Verstandes und seiner Vorstellungen zu sein. Dieses einfache Sitzen ist, wenn man begreift, dass nichts dabei herausspringt und alle Illusionen darüber wegfallen, eines der schönsten und schwierigsten Dinge.
Dieses Sitzen gibt es ja in vielen Religionen und Traditionen, egal, ob es nun Meditation, Kontemplation, Herzensgebet, Versenkung, Verweilen im Ich Bin oder Zazen genannt wird. Und auch auf dem heutigen spirituellen Markt gibt es ein großes Angebot an Meditationen – was genau ist dein Ansatz?
Es stimmt, dass in den meisten Religionen – zumindest in deren mystischer Ausrichtung – die Meditation als Königsweg erkannt wurde, als Brücke zwischen den Wegen der Hingabe, des Verstehens und des rechten Handelns. Als das Tor zur Freiheit. Deshalb sage ich mitunter: Meditation ist etwas für Mystiker. Mystiker sind ganz nüchterne, pragmatische Leute, sie akzeptieren erst etwas für sich, wenn sie es selbst erfahren haben, und sind mutig genug, immer wieder genau hinzuschauen. Nun ist Meditation aber oft an Traditionen und damit verbundene Hierarchien gekoppelt, wie zum Beispiel im Zen. Das kann viele Menschen abschrecken. Deshalb liegt es mir am Herzen, einen religions- und traditionsfreien Ort zu kreieren und etwas weiterzugeben, was es seit Jahrtausenden gibt.
Was verstehst du unter Meditation?
Vor Jahren habe ich mal formuliert, dass Meditation die Auflösung des Ichs ist, welches sich in tiefer Versunkenheit hingibt, ohne etwas zu wollen: „Nimm meine Gedanken und Gefühle, meine Suche und meine Sehnsucht, meine Wünsche und mein Leben, lass mich ganz in dich eintauchen und in dir aufgehen.“ Ich könnte es auch so schlicht sagen wie die US-amerikanische Zen-Lehrerin Joko Beck: „Meditation ist das einfache Gewahrsein dessen, was ist.“ Das ist allerdings oft das Letzte, was wir wollen! Wenn wir ehrlich sind, dann wollen wir doch mit Hilfe der Meditation unser Leben in den Griff bekommen, unsere Probleme lösen und Antworten finden, wollen uns besser fühlen, nicht mehr irritierbar sein, Orientierung und Gott finden – oder das Allerdümmste: erleuchtet werden. Diese Ziele sind alle okay, das muss jeder für sich klären, doch solch eine Zielhaftigkeit macht Meditation sehr anstrengend, und manch einer gibt sie deshalb auch auf. Meditation kann ihre Schönheit erst offenbaren, wenn sie nicht mehr mit einem Ziel verknüpft ist, Wenn sie einfach im Gewahrsein dessen, was ist, geschieht. Der indische Mystiker Nisargadatta nennt es das Verweilen im „Ich Bin“. Lauschen, Wahrnehmen, einfach da sein – die Praxis führt nicht dorthin, sondern sie ist der Raum, in dem erkannt werden kann, dass das unsere Natur ist. Dass wir uns in Gott bewegen, nicht auf ihn zu.
Heißt das, wir müssen einfach nur ohne Wollen, ohne Ziel still sitzen und es zeigt sich das, was immer schon da war und ist?
Das ist die typische Herangehensweise des Verstandes: Ganz schnell macht der Verstand auch aus der Ziellosigkeit wieder ein Ziel, welches unbedingt erreicht werden muss. Das Herz aber funktioniert anders, es sagt: Dort, wo es nichts zu erreichen und zu tun gibt, kann ich mich entfalten. So, wie eine Blume sich entfaltet: Aus einem Samen reckt sich ein Keim, bildet Blätter und Knospen, öffnet sich zur Blüte. Als ich das zum ersten Mal bewusst wahrnahm, war es für mich wie ein Wunder: Ich hatte auf meinem Balkon Samen ausgesät, sie lieblos mit Erde bedeckt, sie ab und zu gegossen. Irgendwann zeigten sich grüne Spitzen – in all dem Lärm und Dreck der Stadt ein zartes Wunder! Es war ein wenig wie in meiner Geschichte. Nackter Samen war am Anfang. Nichts. Dann, auf einmal, Grün. Und noch später Blumen. Die Blume war bereits in dem Samen enthalten, in diesem Nichts. Wollte der Same zur Blume werden? Ist die Blüte mehr wert als die Knospe, als der Samen?
Wenn wir morgens gemeinsam sitzen, sind wir wie so eine Wiesenblumen-Mischung. Das Ich schmilzt. Plötzlich sind wir nichts weiter als unwichtige schöne Pflanzen in einem Topf. Wenn das Ich schmilzt, spürst du auf einmal deinen Nachbarn. Hörst die Vögel draußen singen oder die Autos lärmen. Du merkst: Ah, das Streben hört auf, das Kämpfen reibt sich ab. Du musst weder das Singen des Vogels begehren noch den Autolärm ablehnen. Du empfängst den Moment. Das Wunder der Existenz, das sich als Meditation oder als U-Bahn-Fahrt offenbart.
Fast jeder kennt die Erfahrung des U-Bahn-Fahrens, aber nicht jeder meditiert. Warum sollte man sich überhaupt dieser Anstrengung des täglichen Meditierens – womöglich noch in einer unbequemen Haltung – unterwerfen, wenn es „nichts bringt“?
„Bringt es mir was? Oder bringt es mir doch nichts? Lass ab von dieser Geisteshaltung und sitz einfach.“ Dies war die Meinung des alten Zen-Meisters Kodo Sawaki. Doch keine Frage: Das Sitzen ist, zumindest am Anfang, auch körperlich anstrengend. Wie beim Sport muss man ein bisschen trainieren. Doch entscheidend ist: Wer interessiert sich für diese Frage? Meditation und spirituelle Praxis sind so lange anstrengend, bis wir verstehen dürfen, dass wir es überhaupt nicht sind, die meditieren. Das Leben selbst meditiert uns! Solange es einen Meditierenden gibt, ist es anstrengend, denn dann geht es um etwas. Wie befreiend ist es doch, sich daran zu erinnern, dass es absolut gleichgültig ist, was wir während des Sitzens erleben! Es nimmt die Schwere aus der Praxis, dieses ewige Kreisen um sich selbst: Was und wie erlebe ich es? Gibt es Highlights oder Tiefpunkte? Aufhören, sich für sich selbst zu interessieren – das ist die Praxis. Wir kommen zusammen, sitzen, und es ist – ohne etwas sein oder werden zu müssen.
Keine Frage: In einer Welt, die auf Ablenkung ausgerichtet ist, ist es eine riesige Herausforderung oder sogar ein bedrohliches Wagnis, sich 20 oder 40 Minuten bewegungslos hinzusetzen und mit sich alleine zu sein. Doch du schenkst dir selbst diese Zeit in Stille, du bist es dir wert, dir selbst zu begegnen und zu lauschen. Im Alltag sind wir so angefüllt, dass wir da gar nicht hingelangen, wir sind so ferngesteuert durch Konditionierungen, Gedanken, Sorgen, Arbeit. Du kennst das vielleicht: Es gibt Dinge, die dich beherrschen, unruhig machen. Dann sitzt du ein, zwei Runden und merkst danach, dass es nicht so tragisch ist, wie du es vorher empfunden hast. Die Praxis ist ein Weg aus dem Hunger in das Sattsein. Du verstehst aus dir selbst heraus: Mir fehlt nichts, ich werde getragen, es wird für mich gesorgt. Sattsein ist in dir, in jedem Einzelnen von uns. Durch das tägliche Sitzen werden wir immer vertrauter mit dem Zustand der Sättigung und Abhängigkeiten fallen von ganz allein ab.
Das hört sich jetzt doch an, als ob es etwas zu gewinnen gäbe durch Meditation?!
Absolut kein Gewinn. Nichts, was du „dazu“ bekommst, nichts, was du „mehr“ wirst (aber auch nicht „weniger“). Es ist dein natürlicher Zustand! Es ist wie beim Duschen: Du freust dich, dass du wieder in deinem natürlichen, sauberen Zustand bist, weil der Dreck abgewaschen ist. Meditation ist dem Duschen vergleichbar. Oder einem Hausputz …
… der ja durchaus anstrengend sein kann!
Natürlich kann sich das Öffnen des Geschenkes schwierig gestalten. Im 12-Schritte-Programm spricht man manchmal von einem schlecht verpackten Geschenk. Man muss erst durch all die Verpackungen hindurchdringen, ehe man an den Inhalt gelangt. Ich zitiere ja gern den Satz von Dogen, einem Lehrer des japanischen Zen-Buddhismus: „Sich selbst studieren heißt sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen bedeutet, Buddha zu erkennen.“ Beim täglichen Sitzen kommt irgendwann der Punkt, an dem dir überhaupt nichts anderes übrig bleibt, als dich selbst kennen zu lernen. Zu erkennen, wie das Ich funktioniert, welche Strategien es entwickelt hat, um sich nicht bedroht zu fühlen. Wenn es in der Meditation eng wird – was du auch physisch merkst, etwa wenn sich dein Kiefer oder dein Rücken verspannen, dann kannst du dich fragen: Was verteidige ich gerade? Wovor schütze ich mich? In dem Moment, in dem wir dieser Frage im Herzen Raum geben, ist es möglich zu erlauschen, was wirklich da ist. Wir schützen uns ja immer nur vor Bildern. Und erst wenn etwas im Bewusstsein war, kann es zurückgelassen werden, sagte Nisargadatta. Meditation bietet hierfür Raum. Du begegnest den Dingen – Gedanken, Gefühlen, Körperempfindungen – , wie sie sind. Dann wirst du keine Notwendigkeit mehr verspüren, woanders hin zu müssen. Zu dieser Form der Liebe lade ich ein, jetzt und immer, wenn wir uns zum Sitzen treffen.
Was hat denn dieses „starre“ Sitzen mit Liebe zu tun? Ich hab mich mal sehr geärgert, als du einen Vortrag mit den Worten begannst: „Ich glaube, dass Liebe generell überbewertet wird.“
Nun, da hat meine kleine Provokation ja gewirkt (lacht) … was ich meine, ist, dass ich dich darin unterstützen möchte, von dem Bedürfnis nach Liebe frei zu sein. Sie nicht von außen einzufordern, sich nicht an die Liebe anderer zu haften, sondern sie in dir selbst zu entdecken! Liebe fängt ja immer mit Selbst-Liebe an – und das Sitzen ist für mich ein Akt der Selbst-Liebe! Die Praxis kann dir einen Geschmack von der unspektakulären Liebe der Soheit der Dinge vermitteln. Du musst nicht erwacht sein, dich auf besondere Art fühlen, denken oder sein, dein Körper muss nicht kontrolliert werden, deine Gedanken müssen nicht verstanden, deine Gefühle nicht einsortiert werden. Doch auch gegen das Einsortieren wehrst du dich nicht. Du siehst einfach und sagst Ja zu deinen Schwächen, deinen Stärken, zu deinen Verletzungen, deinen Freuden – zum Leben zu seinen Bedingungen. Du bist durch und durch der Moment. Das ist Liebe – die tiefste Erfahrung in der Manifestation.
Und was ist nun mit dem Erwachen, mit der Erleuchtung? Kann ich sie durch diese ziellose Meditation erlangen?
Du kannst meditieren und suchen noch und noch – davon wirst du nicht erwachen. Erwachen ist nämlich deine Natur und immer vorhanden! Du kannst nur schauen, was deine Natur verschleiert. Uns bleibt immer nur der gegenwärtige Moment. Es mag manchmal einen Umschlagpunkt geben, wo sich der Fokus der Wahrnehmung verschiebt – als würde eine bestimmte Marke überschritten. Ich weiß nicht, ob man ab diesem Zeitpunkt von Erwachen oder Erleuchtung sprechen kann, sicher ist aber, dass sich daraufhin das Erleben verändert. Es geschieht nicht mehr aus der gedanklichen Realität, nicht aus diesem „Paralleluniversum“. Vergiss nicht: Es ist nur eine Idee, dass da noch etwas käme – etwa Erleuchtung.
Bei dir hat ja dieser „Umschlagpunkt“ stattgefunden, da ist etwas spürbar …
… ja, manche meinen, bei mir im Unterschied zu anderen Menschen etwas wahrnehmen zu können, eine angeblich „besondere“ Energie, eine „Ausstrahlung“. Sicherlich, wenn du in dem Spiel als Lehrer eingesetzt bist, ist da etwas wahrnehmbar. Doch es existiert bei jedem anderen Menschen auch. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass ich meinen Gedanken nicht mehr glaube.
Ich wollte fragen, warum du denn überhaupt weiter sitzt nach dem „Überschreiten der Marke“?
Im Zen wird gesagt, dass nach dem Erwachen die Meditation noch wichtiger wird. Dies deckt sich mit meiner Erfahrung. Nur der Verstand kann glauben, er wäre darüber hinaus. Und im Übrigen bin ich etwas naiv ausgestattet, ich glaube einfach Nisargadatta, Ramana Maharshi, Joko Beck, Suzuki Roshi … all den Lehrern, die bis an ihr Lebensende weiter gesessen haben in dem Sinne: „Nimm dich nicht so wichtig, sitz einfach weiter.“ Ich sehe keinen Grund, es besser zu wissen als sie …
Apropos Lehrer: Braucht man einen, um das Meditieren zu „lernen“? Ich selbst wäre ohne dich nie auf die Idee gekommen zu sitzen und empfinde es nach wie vor als hilfreich, einen Lehrer zu haben, der nicht nur über etwas redet, sondern es selbst praktiziert.
Vielleicht ist es die einzige Funktion, die ein Lehrer haben kann, dass er aus dem vollen Verständnis der Meditation heraus praktiziert. Tatsache ist: Wir bekommen in jedem Moment etwas gelehrt, ob wir es wollen oder nicht. Alles, was uns irritiert und zweifeln lässt, ist unser Lehrer. Und wenn wir schon von einer Lehrer-Schüler-Beziehung reden – was ich nicht so gern tue, denn ich hinterfrage dieses ganze Spiel immer wieder für mich – halte ich in dem Gefüge den Begriff „Beziehung“ für das Wichtigste. Beziehung ist ein wundervoller Lehrer, denn nur in Beziehung zu anderen Menschen erleben wir, wie sich alte Überzeugungen erheben, wie wir verteidigen, angreifen, uns zurückziehen, uns minderwertig oder überlegen fühlen – eben dieser ganze Kampf. Die wichtigste Frage in dem Zusammenhang ist: Sind wir offen zu lernen? Sind wir bereit, dem Leben als Schüler gegenüberzutreten, jeden Tag neu? Egal, ob du dich „Lehrer“ oder „Schüler“ nennst. Nisargadatta meinte, dass es nicht an ernsthaften Lehrern mangelt, sondern an ernsthaften Schülern! Die Aufrichtigkeit hinzuschauen, was wir vermeiden wollen, wovor wir Angst haben, macht den Lehrer automatisch sichtbar. Wir finden ihn niemals außerhalb unserer eigenen Dunkelheit! Natürlich ist die Versuchung groß, alles Unangenehme „wegzumeditieren“ in dem Sinne: „Ich bin dann mal kurz weg in einem Samadhi“, doch wir alle wissen: Wir kommen zurück. Und dann sagt jemand zu dir: „Du dumme Kuh!“ – und schon geht das Drama los …
Letztlich weiß ich nicht, ob jeder einen Lehrer braucht. Ich kann nur sagen: Was du brauchst, tritt in dein Leben. Alles andere sind Geschichten.
Lass uns also vom Leben sprechen, vom Alltag: Hat Meditation etwas damit zu tun oder ist es nicht doch eine Flucht oder gar eine elitäre Praxis?
Wenn ich vom Sitzen spreche, spreche ich immer vom ganzen Leben! Die Praxis ist ein Spiegel des Alltags, denn so, wie wir an die Praxis herangehen, so gehen wir auch an das Leben heran: Bist du voller Ziele im Leben, dann wirst du auch in der Praxis streben. Bist du eher faul, wirst du auch faul praktizieren. Du sitzt und du siehst es – und nichts muss anders sein. Doch es ist tatsächlich so: Gelingt es mir in der Meditation, den Impuls „aufstehen und gehen zu wollen“ vorbeiziehen zu lassen, dann kann ich im Alltag dem Impuls „abhauen zu wollen“ ebenfalls widerstehen. Ich habe dann eine Wahl. Das Sitzen gibt uns die Kraft, dem Leben, wie es ist, zu begegnen und es nicht mehr als Kampf erleben zu müssen. Es bringt dich zurück ins Leben, mitten hinein! Das Sitzen ist kein Versteck – der Alltag kommt aus dem Sitzen, aus dem Erwachen.
Anfangs mag die Meditation eine massivere Erfahrung sein als deine Alltagserfahrung, doch glaubst du, dass eine Rose immer blühen kann? Alle Zustände kommen und gehen, es gibt nur den permanenten Wandel. Der Fluss fließt, ohne es zu wollen – und kommt dort an, wo er ankommen soll. Ich komme aus der Gosse – jetzt bin ich „Guru“. Das ist so crazy! Andere waren steinreich und sind unter der Brücke gelandet … es liegt nicht in unserer Hand.
Erinnere dich: Körper sitzen 40 Minuten, es findet ein „Hausputz“ statt – und von diesem „Hausputz“ aus begegnest du dem sogenannten Alltag. Neuer „Müll“, neue Täuschung, neues „Müllausleeren“. Nichts Spektakuläres. Einfach Leben.
Das hört sich sehr nüchtern an … es erinnert mich an die Zeit, als ich erwachsen wurde, ins Berufsleben eintrat und mich fragte: Das soll es nun gewesen sein?
Ja, es hat tatsächlich etwas mit Erwachsenwerden zu tun – letzten Endes mit Freiheit: Du tust das, was du tun musst, nicht das, was du willst. In der heutigen Zeit gibt es so viele Versprechungen und schnelle Lösungen – auch in der spirituellen Szene. Da wechselt man eben mal rasch das Konzept, den Guru oder die Praxis, wenn es langweilig oder uninteressant wird oder mir nicht gibt, was ich suche. „Erwachsenwerden“ heißt für mich in dem Zusammenhang: Können wir mit unserer Zerrissenheit des Nicht-Wissens und Nichtgreifenkönnens einfach still sitzen – ohne uns mit Konzepten zu betäuben? Können wir diese ungestillte lodernde Sehnsucht sein, die sich selbst verzehrt? Können wir verbrennen – ohne Trostpflaster, ohne Geschichte, ohne Ziel, ohne Weg?
Bitte gib noch ein paar praktische Hinweise zur Praxis! Du sagst ja öfter, dass das Sprechen über Meditation wie das Rezept einer Pizza ist – zubereiten und essen muss sie aber jeder selbst.
So ist es: Meine Ausführungen über die Praxis ersetzen niemals die Praxis selbst, da kann man sich nicht täuschen. Pizzaessen denkt man nicht. Man isst Pizza – Schmecken ist ein Seinszustand. Ich befürworte das tägliche, regelmäßige Sitzen, auch wenn es keinen Maßstab dafür gibt, wie lange man sitzen sollte. 20 Minuten können ausreichen. Im „Sea of Joy“ sitzen wir jeweils 40 Minuten in einer Runde. Zur Sitzhaltung sage ich nicht so viel, obwohl es sinnvoll sein kann, in einer etwas „unbequemeren“ Haltung zu meditieren, wie du ja selbst erfahren hast. Es ist schon wichtig, dass der Rücken aufrecht ist und du nicht irgendwie nur „abhängst“. Die Sitzhaltung kann sich auch verändern, sie muss nicht immer gleich sein. Man kann sich austauschen, sich „Tipps“ geben lassen.
Genauso wichtig wie die Regelmäßigkeit ist die Herangehensweise. Du kannst sagen: Ach, wie anstrengend, wie soll ich nur sitzen, alles tut weh, was bringt es eigentlich? Aber du kannst auch mit der Haltung herangehen: Das schenke ich mir, auch wenn ich jetzt vielleicht noch nicht erkennen kann, worin das Bereichernde dieser Praxis liegt. Du vertraust der Praxis, wie viele vor dir darauf vertraut haben. Du reihst dich ein, nimmst dich nicht so wichtig und hörst nicht auf Stimmungen und Launen. Das Schöne ist – und darauf bin ich auch ein bisschen stolz: Bei allen, die hier mit uns sitzen, ist diese Liebe zur Praxis vorhanden. Und die Praxis kennt den Weg.
Woran erkenne ich denn, ob ich Fortschritte mache auf dem Weg?
Wirklichen Fortschritt erkennst du daran, dass du diese Frage nicht mehr stellst – denn wer interessiert sich dafür? Doch einen Hinweis möchte ich geben: Ein unverkennbares Zeichen ist die Kehrtwendung vom Fordern zum Danken. Anstatt Erleuchtung zu fordern, taucht Dankbarkeit dafür auf, dass du existierst und dass dadurch überhaupt erst der Wunsch entstehen kann. Es ist die Haltung des Anfänger-Geistes. Dankbarkeit mündet direkt in Hingabe, und Hingabe ist Liebe. In letzter Konsequenz sind Danken, Glauben und Vertrauen das Gleiche. Ramana Maharshi sagte: „In jenem Moment, in dem wir unser Leben bedingungslos einer höheren Macht überantworten und kein Wunsch zurückbleibt, ist Realisation geschehen.“
Noch eine Frage zum Schluss: Du bist ja in Deutschland meines Wissens der einzige Satsang- und Meditationslehrer, der bei Bedarf auch in Gebärdensprache vermitteln kann. Wie kam es dazu und was ist deine Erfahrung in Bezug auf Meditation und Gehörlosigkeit?
Mein Partner ist gehörlos. Durch ihn lernte ich die Gebärdensprache und die Kultur der Gehörlosen kennen – ein großes Geschenk, wofür ich so dankbar bin! Ich genieße die wortlose Kommunikation mit meinem Partner sehr. Es ist wundervoll, eine Sprache „in den Händen“ zu haben, die die Stille im Raum nicht durchbricht. Auf der anderen Seite musste ich leider erfahren, dass Gehörlosen der Zugang zu Meditation, Satsang und generell spirituellen Veranstaltungen immer noch nicht zugänglich ist. Das macht mich traurig, und ich hoffe, dass ich mit meiner barrierenfreien Arbeit einen Teil dazu beitragen kann, dass auch hör-“geschädigte“ Menschen an diesem Bereich der Gesellschaft teilnehmen können.
Mich berührt immer sehr, dass du dich so oft bedankst für das gemeinsame Sitzen – und es klingt auch nie wie eine bloße Floskel. An dieser Stelle möchte ich mich bei dir bedanken – für das Gespräch und vor allem dafür, dass wir mit dir gemeinsam praktizieren und uns treffen dürfen. Es ist so wertvoll!
Danke, dass du dir selbst die Chance gibst … lass uns einfach weiter sitzen. Machst du bitte mal ein Fenster auf?!
Karim Abedi bietet seit 2004 Satsangs und Retreats an und lädt zu Vorträgen und regelmäßigen Meditationen ein. Sein tiefstes Anliegen ist es, dass die Menschen in sich selbst finden, was sie unabhängig und frei macht. Die Praxis des stillen Sitzens ist dabei das Herz seiner Vermittlung, und gern begleitet er die Praktizierenden auch in Einzelgesprächen. Seine gesamte Tätigkeit geschieht auf Spendenbasis, so, wie er es auch selbst auf seinem Weg – vor allem im 12-Schritte-Programm der Anonymen Suchtkranken – erfahren hat. Neben diesen Angeboten arbeitet er als Kommunikationsassistent für Gehörlose und hat ein Studium begonnen zum Gebärdensprach-Dolmetscher.
Quelle: www.sein.de
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