Eine Einladung zur Wiederentdeckung der Freude am eigenen Denken
und der Lust am gemeinsamen Gestalten
Gerald Hüther Jeder Mensch ist anders…
…und das ist gut so, denn wenn wir alle gleich wären, könnten wir auch nichts mehr voneinander lernen. Dann würden wir alle mit denselben Vorstellungen, Wünschen und Zielen umher rennen und uns über kurz oder lang kollektiv verirren. Passiert ist uns das ja schon häufiger und eigentlich hätten wir aus dieser Erfahrung lernen müssen, dass es nicht die Gleichartigkeit, sondern die Unterschiedlichkeit unseres Denkens, Fühlens und Handelns ist, die uns vor solchen Verirrungen schützt. Aber es fällt uns offenbar leichter, uns mit lauter Gleichgesinnten auf den Weg zu machen und uns von all jenen, die anders Denken, die andere Vorstellungen verfolgen abzugrenzen. Sie sind uns fremd und machen uns Angst. Aber indem wir sie aber ablehnen oder sie gar bekämpfen, berauben wir uns der Möglichkeit, von ihnen und ihren Erfahrungen lernen zu können.
Um aufeinander zugehen und einander begegnen zu können, müssten wir zunächst zu verstehen versuchen, weshalb wir alle so unterschiedlich sind. Dann könnte uns bewusst werden, dass es nicht andere Menschen sind, vor denen wir uns fürchten, sondern dass es die Verschiedenartigkeit der von ihnen verfolgten Absichten, und der diesen Absichten zugrundeliegenden Vorstellungen und inneren Überzeugungen sind, die uns diese anderen, uns fremden Menschen so bedrohlich erscheinen lassen.
Aber diese, im Frontalhirn eines jeden Menschen verankerten inneren Überzeugungen sind nicht vom Himmel gefallen oder durch irgendwelche genetischen Anlagen dort hineinprogrammiert worden. Sie sind das Ergebnis der von dieser Person in ihrem bisherigen Leben bei der Lösung der dort von ihr vorgefundenen Probleme gemachten Erfahrungen. Sie sind also erworben.
Sie sind deshalb niemals richtig oder falsch, sondern entsprechen nur dem, was dieser betreffende Mensch bisher in seinem Leben an Erfahrungen zu sammeln Gelegenheit gehabt hat. Unter anderen Lebensumständen, in einer anderen Familie, mit einem anderen sozialen Hintergrund, in einer anderen Region, in einer anderen Kultur hätte die betreffende Person ganz andere Erfahrungen gemacht. Dann hätte er oder sie auch eine andere innere Überzeugung, andere Vorstellungen, eine andere Haltung entwickelt. Dann wäre er oder sie Mitglied in einer anderen Partei geworden, würde anderes für wichtig und notwendig halten, sich um anderes kümmern und andere Ziele verfolgen.
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Und wenn jemand bei den Amazonasindianern im tropischen Regenwald oder bei den Inuits am Polarkreis aufgewachsen wäre und aufgrund der dort gemachten Erfahrungen ganz andere Vorstellungen darüber entwickelt hätte, worauf es in seinem Leben und im Zusammenleben mit anderen Menschen ankommt, wäre derjenige, wenn er zu uns käme, der Meinung, wir hätten nicht alle Tassen im Schrank.
Nicht die Umwelt formt uns und auch nicht die Gene
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Es ist natürlich richtig, dass es im tropischen Regenwald anders zugeht als bei uns. Das ist eine ganz andere Welt. Dort herrschen ganz andere Bedingungen. Aber auch dann, wenn Kinder hier bei uns aufwachsen, unterscheiden sich die Umstände, die sie in ihren jeweiligen Herkunftsfamilien, Stadtteilen oder Dörfern, ja sogar in den dort von ihnen besuchten Kindergärten oder Schulen vorfinden bisweilen sehr deutlich. Die Entwicklungsbiologen und Entwicklungspsychologen bezeichnen diesen äußeren Rahmen als „Umwelt“ und haben in der Vergangenheit viel Zeit damit verbracht, den Einfluss dieser jeweiligen Umweltbedingungen auf die Entwicklung von Kindern, vor allem auf deren Hirnentwicklung zu ermitteln. Mit diesen Untersuchungen sollte geklärt werden, was einen stärkeren Einfluss auf die Ausreifung des kindlichen Gehirns hat: die Umwelt oder die genetischen Anlagen. Außer einem ständigen Hin und Her und viel Streiterei ist dabei bis heute allerdings wenig herausgekommen.
Der Grund dafür ist einfach: Kinder sind aktive Wesen, also keine Objekte, die von irgendeiner Umwelt geformt werden, sondern Subjekte, die mit ganz unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen und Vorerfahrungen, mit ihren jeweils eigenen Bedürfnissen, Erwartungen und Absichten in einer Beziehung zu dem treten, was bisher als ihre „Umwelt“ bezeichnet worden ist.
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Dort, in dieser jeweiligen Lebenswelt, ist ihnen nicht alles gleichermaßen wichtig. Sie treten nur mit dem in Beziehung, fokussieren ihre Aufmerksamkeit nur auf das und lassen sich nur von dem berühren, was ihnen aus ihrer jeweiligen Perspektive wichtig und bedeutsam erscheint. Nicht alles, was Kinder (und natürlich auch noch Erwachsene) aus ihrer „Umwelt“ wahrnehmen, was sich ihnen dort an Gelegenheiten bietet oder was dort passiert, ist auch allen gleichermaßen wichtig. Immer ist es das einzelne Kind, das als Subjekt bewusst oder unbewusst entscheidet, worauf es sich einlässt und womit es deshalb in Beziehung tritt. Dem, was wir für eine objektive Umwelt halten, verleiht jedes Kind also eine eigene subjektive Bedeutung.
Hier ein kurzes Interview mit Prof. Hüther zu “Etwas mehr Hirn, bitte…”:
Auf die subjektive Bewertung kommt es an
Sehr anschaulich beschreiben lässt sich das am Beispiel einer Familie, die zwei gleichgeschlechtliche Kinder, ja vielleicht sogar ein eineiiges Zwillingspaar großzieht. Die Eltern geben sich meist große Mühe und sind davon überzeugt, beide Kinder gleich zu behandeln. Beide wachsen also in eine weitgehend identische Umwelt hinein. So wird das jeder Beobachter empfinden, der die Situation von außen betrachtet. Aber aus der Perspektive der beiden Geschwister sieht die Welt, in die sie hineinwachsen, individuell sehr unterschiedlich aus. Schneller als Papa und Mama es bemerken, hat sich eines der beiden meist des Erstgeborenen einen besonderen Platz für sich gesichert. Dann sitzt es auf Papas Schoß oder hat sich Mama` s Aufmerksamkeit verschafft. Und für den Bruder oder die Schwester sieht die Welt zwangsläufig ganz anders aus, wenn die besten Plätze schon belegt sind. Die oder der muss sich dann nach Alternativen umschauen. Und wenn Mama und Papa gemeinsam mit den Kindern singen, tanzen, malen oder kochen, wird es immer ein Geschwisterkind geben, das sich ganz besonders für das Eine oder das Andere interessiert und das nun mit Begeisterung dabei ist. Kinder sogar eineiige Zwillinge sind, niemals völlig gleich, haben eigene Vorlieben und Bedürfnisse, besondere Talente und Begabungen, subjektive Erwartungen und deshalb auch einen jeweils eigenen Blick auf ihre nur von außen betrachtet identisch erscheidende Lebenswelt.
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Sie treten nur mit dem in Beziehung und lassen sich nur auf das ein, was ihnen aus ihrer subjektiven Sicht wichtig und bedeutsam erscheint. Nur das geht ihnen unter die Haut, führt zur Aktivierung der emotionalen Zentren im Gehirn, löst bestimmte Gefühle aus und trägt über die Freisetzung neuroplastischer Botenstoffe dazu bei, dass dabei aktivierte Nervenzellen neue Fortsätze und Kontakte ausbilden. Erst als Folge dieser intensiven Beschäftigung, dieses In-Beziehung-Tretens, kommt es zur Herausformung und Festigung entsprechender Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen in seinem Gehirn.
Beziehungserfahrungen werden als Beziehungsstrukturen im Gehirn verankert
Die ersten und wichtigsten Beziehungserfahrungen macht ein Kind mit seinem eigenen Körper. All das, was in seinem Gehirn an Signalen aus dem Körper ankommt, führt zum Aufbau eines charakteristischen Erregungsmusters innerhalb des im Gehirn bereitgestellten Überangebots an synaptischen Kontakten. Je häufiger ein solches, spezifisches Erregungsmuster entsteht, desto stärker werden die daran beteiligten synaptischen Verbindungen gebahnt und gefestigt. Auf diese Weise entstehen im Gehirn zunächst zunehmend komplexer werdende strukturell verankerte Repräsentationen der aus dem Körper eintreffenden Signal- (wie auch der im Gehirn erzeugten Reaktions- oder Antwort-) Muster. Später, wenn die Sinnesorgane soweit gereift sind, dass sie die durch spezifische Wahrnehmungen entstandenen Erregungsmuster zum Gehirn (sensorischer Cortex) weiterleiten, werden auch diese Sinneseindrücke als innere Repräsentationen der jeweils gemachten Sinneserfahrungen im Gehirn herausgeformt und mit den jeweiligen Antwort- und Reaktionsmustern auf die betreffende Wahrnehmung verbunden. Und noch später, wenn der heranwachsende Mensch zunächst mit seinen Eltern und dann mit immer mehr anderen Menschen in Beziehung tritt, werden diese Beziehungserfahrungen in den höheren, komplexesten Bereichen des Gehirns in Form sog. Metarepräsentationen verankert. Und spätestens jetzt kann das, was in diesen Beziehungen gelernt und im Gehirn abgespeichert wird, zu einem Problem werden.
Weil diese Beziehungserfahrungen nun zunehmend von anderen Menschen, deren Verhaltensweisen, deren Überzeugungen, deren Meinungen und deren Vorstellungen bestimmt werden, kann es sehr leicht geschehen, dass die dadurch im Gehirn des Kindes entstehenden neuen Verschaltungsmuster nicht mehr so recht zu den älteren, durch seine eigenen Körpererfahrungen und seine eigenen Wahrnehmungen und Aktivitäten gemachten Erfahrungen passen. So wird beispielsweise das Bedürfnis, sich zu bewegen durch entsprechende Maßregelungen oder allein schon durch das Vorbild von Erwachsenen mehr oder weniger eingeschränkt. Der bei kleinen Kindern noch vorhandene Impuls, den ganzen Körper einzusetzen, um das eigene Befinden zum Ausdruck zu bringen, wird später mehr oder weniger deutlich unterdrückt. Gefühle von Angst und Schmerz, auch von übermäßiger Freude und Lust, werden im Zusammenleben mit anderen zunehmend kontrolliert.
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und der Lust am gemeinsamen Gestalten
Auf diese Weise passt sich jeder Mensch im Verlauf seiner Kindheit an die Vorstellungswelt und die Verhaltensweisen der Erwachsenen an, mit denen er aufwächst. Später, als Jugendlicher, orientiert er sich zunehmend an den Denk- und Verhaltensweisen seiner Altersgenossen, den Peer-Groups, zu denen er oder sie gehört oder gern gehören möchte. Ohne es selbst zu bemerken, entfernt sich der betreffende Mensch im Verlauf dieses Anpassungsprozesses so immer weiter von dem, was sein Denken, Fühlen und Handeln ursprünglich, als er noch ein kleines Kind war, primär geprägt hatte: Die eigene Körpererfahrung und die eigene Sinneserfahrung. Indem er all das zu unterdrücken beginnt, was bisher der selbstverständlichste und ureigenste Teil seines Selbst war, wird er sich selbst zunehmend fremd. Sein Körper, und die aus seiner Körperlichkeit erwachsenden Bedürfnisse werden – weil sie dem starken Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung, nach Identitätsentwicklung und Selbstentfaltung im Wege stehen – als Hindernis betrachtet und deshalb unterdrückt und abgetrennt. Je weniger sich ein Kind im Zusammenleben mit anderen geborgen fühlt, je mehr Angst es hat, so wie es ist, nicht angenommen, nicht gewertschätzt und gemocht zu werden, desto mehr strengt es sich an, von den anderen gesehen zu werden, dazu gehören zu dürfen. Desto bereitwilliger übernimmt es dann auch deren Vorstellungen. Dabei geht ihm leider allzuleicht das Wichtigste verloren, was es braucht, um glücklich zu sein: Die Freude am eigenen Denken und die Lust am gemeinsamen Entdecken und Gestalten.
Wir hätten auch anders werden können
Das haben wir alle als Kinder und Jugendliche so oder so ähnlich auf mehr oder weniger intensive Art am eigenen Leib erfahren. In machen Kulturen ist der Druck, so denken, fühlen und handeln zu müssen, wie alle anderen, stärker, in anderen vielleicht auch schwächer als bei uns. Aber gänzlich entgehen kann ihm kein Kind, das in eine Gemeinschaft von Menschen hineinwächst, die bestimmte Vorstellungen davon haben, wie man als Mensch zu sein hat, um als Mitglied in dieser Gemeinschaft akzeptiert zu werden.
Ihr Gerald Hüther
Weitere inspirierende und spannende Beiträge zum Thema:
“Unsere Schulen produzieren leidenschaftslose Pflichterfüller” von Prof. Gerald Hüther
Die Wissenschaft der Epigenetik – Kontrolle oberhalb von Genetik von Gastautor Dr. Arkuma Saningong
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