Was geschieht, wenn jemand plötzlich und unvorbereitet die Erfahrung des »Erwachens«, der »Befreiung«, der »Erleuchtung« macht? Lichtblitze im Kopf und Glücksfarben in der Aura? Oder stilles… Glück in der Leichtigkeit des Seins? Und was dann? Ändert sich das Leben? Oder immer noch “business as usual”? Lesen Sie, was jemand zu erzählen hat, der diese wahrhaft außergewöhnliche Erfahrung selbst gemacht hat.
von Richard Sylvester
An einem warmen Sommerabend in einem Bahnhof mitten in London, verschwindet urplötzlich und vollständig dieses Ich-Gefühl. Alles bleibt wie vorher – Leute, Züge, Bahnsteige, tausenderlei Dinge –, aber alles wird zum ersten Mal ohne eine Person gesehen, die all das vermittelt oder interpretiert. Und das alles ohne Lichtblitze, ohne Feuerwerk, nichts von dem bunten Gestrudel eines LSD- oder Pilz-Trips. Und doch ist das hier erst das richtige „Wow“ – einen ganz gewöhnlichen Bahnhof zum ersten Mal ohne jegliches Ich-Gefühl zu sehen. Hier wird das Gewöhnliche als das Außergewöhnliche gesehen, wie es in der Einheit hervortritt und von niemandem erfahren wird.
In diesem Augenblick stellt sich heraus, dass niemand da ist. Dieses Gefühl, da sei eine Person, war bisher immer da, eine Konstante, die diesem Leben Sinn gegeben hat. All die vielen Jahre ist sie nie in Frage gestellt worden. Sie wurde so selbstverständlich für mein Ich, mein Zentrum, meinen Standort genommen, dass sie nicht einmal bemerkt wurde. Jetzt erweist sie sich als pure Erfindung. Plötzlich ist klar, dass ich nie ein Leben gehabt habe, weil es mich als ein Ich nie gegeben hat. Einen ewigen Sekundenbruchteil lang wird erkannt, dass alles einfach so gesehen wird, wie es ist, wenn kein Ich da ist. Ich lebe nicht, ich werde gelebt. Ich handle nicht, aber Handeln geschieht durch mich, die Marionette des Göttlichen.
Alle Anliegen und Belange dieses kleinen, aber ach so wichtigen scheinbaren Lebens fallen von einem Augenblick auf den nächsten weg. Aber eine Sekunde später ist das Ich wieder da und fragt: „Allmächtiger, was war denn das?“ Dennoch, diese Millisekunde niemand bringt unwiderrufliche Veränderungen der inneren Landschaft mit sich. Das hier sprengt alles, was du je geglaubt hast.
Die Vergangenheit wird flach, zweidimensional. Bis jetzt war sie immer eine dreidimensionale Landschaft, in der ich mich viel herumgetrieben habe, hierhin, dahin, Sprünge von Ort zu Ort. Jede Szene war so voller Realität und eigener Energie. Diese Energie äußerte sich als Gefühle und Gedanken, vor allen von Bedauern, von Schuld, und endlos, schleifenartig, von „Was, wenn …“ und „Wäre doch nur …“ Diese Vergangenheit wurde immer wieder umgewühlt und neu angelegt, sinnloses Durchspielen von anderen Möglichkeiten, als könnte das zwanghafte Zurück in all die alten Szenen irgendwie die Landschaft verändern, die verlorene Liebe zurückbringen oder empfangene und ausgeteilte Verletzungen ungeschehen machen. Und jetzt, nach diesem zeitlosen Augenblick niemand, ist zwar die Person wieder da, aber die Vergangenheit nur noch wie ein Bild, flach. Die Szenen sind noch vollzählig vorhanden, wir reden ja nicht von Alzheimer, aber sie sind kraftlos geworden, ohne Realität, und es regt sich kaum ein Impuls, irgendeine dieser Szenen noch einmal aufzusuchen. Es kommt vor, dass die eine oder andere Szene noch einmal vorübergehend zu einer Art Lebendigkeit aufflackert, doch sie verblasst und versinkt bald wieder. Das Bedauern und die Schuldgefühle lösen ihre Umklammerung.
Heikle Fragen und Probleme kommen noch vor, aber sie können sich nicht mehr so dauerhaft einnisten wie früher. Die Felswand, an der sie Vorsprünge fanden, um heraufzuklettern und mir an die Gurgel zu gehen, wird immer bröckliger. Die innere Landschaft wird glatt, rutschig. Die Welt, sagte Nisargadatta, ist voller Ösen, aber die Haken haben alle wir. Die Haken fangen jetzt an zu schwinden. Aber das ganze nächste Jahr hindurch versucht das Ich geradezu panisch, sich wieder ins Gespräch zu bringen, und manchmal, wie es scheint, durchaus mit Erfolg, nämlich wenn alte Knackpunkte wieder akut werden, wenn Überdruss, Verzweiflung und Seelenschmerz irgendwie doch noch einmal durchlebt werden müssen.
Eines jedoch wird gleich erkennbar, nämlich was es mit all den so genannten spirituellen Erfahrungen auf sich hat, die in den Jahren des Suchens auf trügerischen Wegen und unter trügerischen Gurus gemacht wurden. Jetzt können sie plötzlich als das gesehen werden, was sie wirklich sind, emotionale und psychische Erlebnisse, die einer unwirklichen Person widerfuhren und nicht mehr zu bedeuten haben als Schuhe anziehen und Kaffee trinken.
Spirituelle Erfahrungen sind nicht gar so schwer herbeizuführen. Intensiv meditieren, endlos rezitieren, bestimmte Drogen nehmen, nicht schlafen und nicht essen, sich extremen Situationen aussetzen. Irgendwas davon wird es wohl bringen. Ich hatte all das gemacht, und es war zu etlichen spirituellen Erfahrungen gekommen. Ich hatte Stunde um Stunde rezitiert und zu den Schlägen mächtiger tibetischer Klangschalen meditiert. Ich hatte den in seinen prächtigen Gewändern auf einem Podest sitzenden Guru in goldenes Licht aufgehen sehen. Die persönliche Identität war hauchfein geworden und hatte sich schließlich in transzendente Verzückung aufgelöst. Mein Bewusstsein hatte sich auf alles und alle und bis ins Unendliche ausgeweitet, das Universum hatte mich geatmet.
Tja, und was weiter?
Immer war ein Jemand da gewesen, der die spirituelle Erfahrung machte. Diese Person, wie hoch sublimiert auch immer, fehlte nie. All das war „mir“ widerfahren, und nichts davon hatte mehr (oder weniger) mit Freiheit zu tun als das Streicheln einer Katze.
Und überhaupt, „Man kann in Gottes Welt nicht lange bleiben. Es gibt da keine Restaurants und keine Toiletten.“
Befreiung ist nichts Persönliches und hat nichts mit psychischen, seelischen oder „spirituellen“ Erfahrungen zu tun, wie hoch man die auch züchten mag. Eine psychische oder spirituelle Erfahrung ist einfach eine persönliche Erfahrung. Wenn einmal sichtbar geworden ist, dass ich nichts bin, dann wird auch gesehen, dass jedwede Erfahrung lediglich von einer scheinbaren Person scheinbar gemacht wird und im Einen wieder abfällt und rein gar nichts zu bedeuten hat. Es gibt keine reale Person, in welcher Erfahrung geschieht, deshalb ist völlig ausgeschlossen, dass sie irgendeine Bedeutung hat.
Außerdem hat Freiheit nichts mit dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Problemen oder Knackpunkten zu tun; die können weiterhin auftreten oder eben nicht.
Freiheit kommt nicht als Glückseligkeit ohne Ende. Wer darauf aus ist, möge es mit Heroin, Prozac oder Lobotomie versuchen.
Was für eine Erleichterung. Freiheit setzt nicht voraus, dass du so oder so oder so bist.
Freiheit setzt nicht einmal voraus, dass du überhaupt bist. Diese Worte hier schreibt keine Person. Das Eine schreibt diese Worte. Und das Eine liest sie.