„Meinem Kind soll es später einmal besser gehen.“ Ein nachvollziehbarer Wunsch von Eltern, die sich für die Befriedigung der Grundbedürfnisse ihrer Familie verausgaben. Was Kinder auf sich nehmen, um den Wunsch ihrer Eltern zu erfüllen, ist erschreckend und zugleich faszinierend. Ein Blick hinter die Kulissen eines Systems, in dem Individualität im Keim erstickt – und eine Elite herangezogen wird.
Authentisch und differenziert – ein wichtiger Glücksfall im Dokumentarfilm. Prädikat besonders wertvoll. Deutsche Film- und Medienbewertung
Kung Fu: Harte Arbeit, Kraft, Zeit und Geduld
Aufstehen um 5.40 Uhr, Training bis 7.30 Uhr, anschließend Frühstück, Training von 8.50 Uhr bis 11.50 Uhr. Zwanzig Minuten Mittagessen, danach wird in der Schule Allgemeinwissen gelernt, um 18.20 Uhr geht es in den Schlafsaal, um 20.30 Uhr heißt es Bettruhe. Sechs Tage die Woche. Nur sonntags fällt der Schulunterricht aus, dafür wird intensiver trainiert.
Nein, dies ist kein Tagesplan für Elite-Soldaten, sondern für die 26 000 Schüler der größten Kung-Fu-Schule Chinas, Shaolin Tagou, in der Provinz Henan.
Kung Fu steht in der chinesischen Sprache für den Begriff “harte Arbeit”. Harte Arbeit im Sinne von Zeit, Mühe, Kraft und Geduld, die benötigt wird, um eine besondere Fähigkeit zu erlernen.
Tausende Kilometer von den Eltern entfernt lernen Jungen und Mädchen an dieser Schule eiserne Disziplin. Wer nicht gehorcht bekommt den Stock zu spüren, bis er bricht. Sie hoffen auf die Chance, irgendwann zur Kung-Fu-Elite zu zählen, um später ein besseres Leben führen zu können. Elite-Absolventen werden gerne beim Militär, als Bodyguards oder bei der Polizei eingesetzt. Die meisten Kinder stammen aus ärmlichen Verhältnissen, einige besuchen die Schule, weil sie sich der gesellschaftlichen Norm nicht anpassten.
Drachenmädchen: Anerkennung durch Leistung
Die Filmdokumentation Drachenmädchen packt einen von Beginn an und lässt nicht mehr los. Sie beleuchtet ohne Kommentar und Bewertung, sondern lässt den Zuschauer selbst einen Standpunkt beziehen. Und dieser ist nicht so einfach zu finden, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Film gewährt uns nicht nur einen Blick hinter die Kulissen eines Systems, welches uns fremd und doch so vertraut erscheint; er lässt uns auch auf sensible Weise an den Träumen, Hoffnungen, Ängsten und Tränen der drei jungen Protagonistinnen teilhaben – die sich nicht von denen europäisch geprägter Kinder unterscheiden. Das wirft Fragen auf und bietet regen Diskussionsstoff für die gesamte Familie. Wir werden mit unseren persönlichen Überzeugungen konfrontiert und dürfen uns ehrlich fragen, wo der Unterschied zwischen einem Bestrafungssystem und einem Belohnungssystem zu finden ist, wenn doch die Auswirkungen auf unsere Kinder dieselben sind. Sind nicht beides Formen der Gewalt, mit der Kinder fügsam gemacht werden?
Drachenmädchen ist besonders empfehlenswert für Eltern, Pädagogen und Kinder ab 6 Jahren. Aber auch für alle, die einen Blick hinter den Vorhang der Volksrepublik China werfen wollen und natürlich kommen auch Kung-Fu Interessierte auf ihre Kosten – auch wenn die Philosophie der Schule eine ganz andere ist als die der Shaolin Mönche.
Filmbeschreibung
In der Filmdokumentation Drachenmädchen begleitet Regisseur Ingo Westmeier drei Mädchen in ihrem harten Alltag: die 9-jährige Xin Chenxi, die 15-jährige Chen Xi und die 17-jährige Huang Luolan, die dem Drill entfloh, nach Shanghai zurückkehrte, erst nur noch vor dem Computer rumhing um dann als Nageldesignerin zu arbeiten; etwas das ihr Freude bereitet.
Der Film beobachtet die Kinder bei ihren Routinen in der Schule, beim Training und dem morgendlichen Appell. Zwischendurch berichten die Mädchen von ihren Träumen und Sehnsüchten, ihren Schmerzen und Hoffnungen. Die 15-jährige Chen Xi zieht sich zum Weinen in die Abstellkammer zurück, wenn alle schlafen, die 9-jährige Xin Chenxi, wird nur von ihrem Vater besucht, wenn sie im Wettkampf den ersten Platz belegt. Ihre erreichten zweiten und vierten Plätze zählen nicht. Sie selbst hat dieses Prinzip bereits mit ihren neun Jahren vollständig verinnerlicht und akzeptiert. Wenn sie nicht gut ist, verdient sie Papas Liebe eben nicht. Anders geht das älteste Mädchen, die 17-jährige Huang Luolan, mit dem Druck um, sie ist die Einzige, die diesem Drill zu entfliehen versucht.
Kindheit bedeutet, an Feiertages ist man glücklicher.
Xin Chenxi
Wer trainiert die Kinder?
Meist sind es ehemalige Schüler, die vor Jahren noch härter angepackt wurden – und dies auch kundtun. Sie unterliegen demselben Gehorsam wie die Schüler. So haben unverheiratete Trainer keinen Tag frei und dürfen die Schule nicht verlassen. Verheiratete Trainer dürfen zwei Abende in der Woche zu ihren Familien nach Hause – dort dürfen sie jedoch nur mit ihrer Familie spazieren gehen. Andere Freizeitaktivitäten sind verboten.
Der offizielle Trailer zur Filmdokumentation Drachenmädchen
Es gestaltete sich kompliziert, ohne Aufpasser mit den Menschen zu reden, aber es gelang in wenigen unbeobachteten Momenten. Ingo Westmeier begeistert nicht nur durch sensible Herangehensweise, sondern auch durch fantastische Aufnahmen! In intensiven Beobachtungen und Gesprächen mit den Mädchen, ihren Trainern, Eltern und Verwandten, dem Schulleiter und dem Abt des nahen Shaolin-Tempels, der Wiege des Kung Fu, entsteht das Bild einer Gesellschaftsschicht, die sich nicht um ihre Kinder kümmern kann. Und von Heranwachsenden, die nie die Chance erhielten, Kind zu sein, und die alles tun, um aus der Misere herauszukommen.
Drachenmädchen übt eine eigenwillige Faszination aus. Die Bilder, wenn Abertausende Kinder, in gleicher Kleidung die gleichen Körperbewegungen ausüben, sich im Gleichklang bewegen, sind einfach beeindruckend. Was es die Kinder gekostet hat, diese Bewegungsabläufe einzustudieren und derart zu präsentieren ist erschreckend. Eine Massenchoreografie, die ihresgleichen wohl nur in den Armeen dieser Welt findet.
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