Die Glocken der Achtsamkeit rufen uns zu,
versuchen uns aufzuwecken, sie erinnern uns daran,
genau hinzuschauen, welche Auswirkungen
unsere Lebensweise auf diesen Planeten hat.
Buchtipp: Spirituelle Ökologie
Der Ruf der Erde
Wir missachten den Klang der Glocken
Die Glocken der Achtsamkeit ertönen. Überall auf der Erde erleben wir Überschwemmungen, immer ausgedehntere Dürreperioden und verheerende Flächenbrände. In der Arktis schmilzt das Eis, während andernorts Tausende durch Wirbelstürme oder Hitzewellen getötet werden. Die Wälder schwinden und die Wüsten dehnen sich aus. Tagtäglich sterben ganze Arten aus, und doch konsumieren wir weiter und missachten den Klang der Glocken.
Wir alle wissen, dass unser schöner, grüner Planet in Gefahr ist. Die Art und Weise, wie wir über diese Erde gehen, hat einen großen Einfluss auf Tiere und Pflanzen. Doch wir verhalten uns so, als ob unser Alltagsleben nichts mit dem Zustand der Welt zu tun hätte. Wir sind wie Schlafwandler, die nicht wissen, was sie tun oder wohin sie unterwegs sind. Ob wir erwachen können oder nicht, hängt davon ab, ob wir achtsam über unsere Mutter Erde zu gehen vermögen. Die Zukunft allen Lebens, einschließlich unseres eigenen, hängt von unseren achtsamen Schritten ab.
Wir müssen die Glocken der Achtsamkeit hören, die überall auf unserem Planeten zu hören sind. Wir müssen lernen, so zu leben, dass für unsere Kinder und Enkelkinder eine Zukunft möglich sein wird.
Ich habe den Buddha über die Erderwärmung zu Rate gezogen. Seine Lehre ist sehr klar und eindeutig. Wenn wir weiterhin so leben, wie wir es bisher getan haben, und ohne irgendeinen Gedanken an die Zukunft einfach konsumieren, unsere Wälder zerstören und gefährliche Mengen von Kohlendioxid ausstoßen, dann wird ein verheerender Klimawandel unvermeidbar sein. Unser Ökosystem wird größtenteils zerstört werden.
Der Meeresspiegel wird ansteigen und die Küstenstädte werden überflutet werden. Hunderte Millionen Menschen werden zu Flüchtlingen, was zu Kriegen und zum Ausbruch ansteckender Krankheiten führen wird.
Wir brauchen eine Art kollektiven Erwachens. Es gibt unter uns Männer und Frauen, die bereits aufgewacht sind, doch das genügt nicht, denn die meisten Menschen schlafen immer noch. Wir haben ein System geschaffen, das wir nicht kontrollieren können, das uns beherrscht und dessen Sklaven und Opfer wir geworden sind. Die meisten von uns, die ein Haus, ein Auto, einen Kühlschrank, einen Fernseher und so weiter haben wollen, müssen dafür ihre Zeit und ihr Leben opfern. Wir stehen ständig unter Zeitdruck. Früher war es uns noch möglich, drei Stunden in einer entspannten, spirituellen Atmosphäre mit einer Tasse Tee in Gesellschaft von Freundinnen und Freunden zu verbringen. Wir konnten ein Fest veranstalten, um das Blühen einer einzigen Orchidee in unserem Garten zu feiern. Aber heute k nnen wir uns das alles nicht mehr leisten.
“Zeit ist Geld!”
“Zeit ist Geld!”, heißt unser Motto. Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden; eine Gesellschaft, in der wir so in unsere eigenen unmittelbaren Probleme verstrickt sind, dass wir es uns nicht leisten können, dessen gewahr zu sein, was mit dem Rest der Menschenfamilie oder unserem Planeten Erde geschieht. Ich muss da an Hühner in einem Käfig denken, die sich erbittert über einige Körner streiten und denen gar nicht bewusst ist, dass sie in wenigen Stunden alle geschlachtet werden.
In China, Indien, Vietnam und anderen Schwellen- oder Entwicklungsländern träumen die Menschen noch immer den “amerikanischen Traum”. Als ob dessen Erfüllung das letzte Ziel der Menschheit wäre – jeder muss ein eigenes Auto haben, ein eigenes Bankkonto, ein eigenes Mobiltelefon, einen eigenen Fernseher. In 25 Jahren wird die Einwohnerzahl Chinas auf 1,5 Milliarden Menschen gestiegen sein. Wenn jeder von ihnen ein eigenes Auto fahren möchte, wird China tagtäglich rund 16 Milliarden Liter Öl benötigen. Aber die Weltproduktion liegt augenblicklich nur bei zirka 13 Milliarden Liter am Tag. Demzufolge ist für China, Indien oder Vietnam der amerikanische Traum nicht zu verwirklichen.
Er wird nicht einmal mehr für die Amerikaner möglich sein. Wir können nicht so weiter leben wie bisher. Solch eine Wirtschaft ist nicht zukunftsfähig.
Buchtipp: Spirituelle Ökologie
Der Ruf der Erde
Wir brauchen einen anderen Traum
Wir müssen einen anderen Traum haben, einen Traum von Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit, von liebender Güte und Mitgefühl. Ein solcher Traum ist im Hier und Jetzt zu verwirklichen. Wir haben die Lehre des Buddha, wir verfügen über die Mittel und genügend Weisheit, um diesen Traum leben zu können. Das Herz des Erwachens, der Erleuchtung, ist Achtsamkeit. Wir üben uns in achtsamem Atmen, damit wir im gegenwärtigen Augenblick verweilen und erkennen können, was in uns und um uns herum geschieht. Wenn das, was in uns geschieht, Verzweiflung ist, müssen wir das erkennen und sofort handeln. Vielleicht möchten wir diesem geistigen Gebilde nicht gerne begegnen, aber es ist Wirklichkeit, und diese Wirklichkeit müssen wir zunächst einmal anerkennen, um sie dann umwandeln zu können.
Wir müssen wegen der gegenwärtigen Erderwärmung nicht in Verzweiflung geraten, wir können etwas dagegen tun. Setzen wir nur unsere Unterschrift unter eine Petition und vergessen das Ganze dann gleich wieder, ist nicht viel geholfen. Sowohl auf der persönlichen als auch auf der kollektiven Ebene sind entschiedene Maßnahmen erforderlich. Wir alle haben den großen Wunsch, in Frieden und Nachhaltigkeit, was unsere Umwelt angeht, zu leben. Aber die meisten von uns wissen nicht, wie sie ihr Engagement für eine zukunftsfähige Lebensweise konkret in ihrem Alltagsleben realisieren können. Wir haben uns noch nicht organisiert.
Wir können nicht allein Regierungen und Unternehmen für die Chemikalien verantwortlich machen, die unser Trinkwasser verunreinigen, für die Gewalt in unserer Umgebung oder die Kriege, die so viele Menschenleben zerstören. Es ist Zeit für jede und jeden Einzelnen von uns, aufzuwachen und im eigenen Leben Veränderungen herbeizuführen. Wir sind Zeugen der uns umgebenden Gewalt, Korruption und Zerstörung.
Wir alle wissen, dass die gegenwärtigen Gesetze den Aberglauben, die Unmenschlichkeit und den Machtmissbrauch nicht wirksam zu bekämpfen vermögen. Nur Vertrauen und Entschlossenheit können uns davor bewahren, in tiefe Verzweiflung zu fallen.
Der Buddhismus ist die stärkste Form des Humanismus, die wir haben. Durch ihn können wir lernen, ein Leben in Verantwortung, liebender Güte und Mitgefühl zu führen. Jeder buddhistisch Praktizierende sollte Umweltschützer sein. Wir haben die Macht, über das Schicksal unseres Planeten zu entscheiden. Wenn wir zu unserer gegenwärtigen Situation erwachen, wird dies in unserem kollektiven Bewusstsein einen Wandel bewirken. Wir müssen etwas tun, um die Menschen aufzuwecken.
Wir müssen dem Buddha helfen, die Menschen erwachen zu lassen, die in einem Traum leben.
Dieser Beitrag entstammt dem Buch “Spirituelle Ökologie“, Neue Erde Verlag, 2015
Thich Nhat Hanh
Zen Meister Thich Nhat Hanh ist ein weltweit bekannter spiritueller Lehrer, Dichter und Friedensaktivist. Seine bahnbrechenden Lehren über Achtsamkeit, globale Ethik und Frieden werden auf der ganzen Welt hoch geachtet.
Am 22. Januar 2022 ist er im Alter von 95 Jahren friedlich im Từ Hiếu Tempel in Huế, Vietnam, verstorben.
Wir danken ihm für sein Wirken auf dieser Erde.
Hier kann für seine Stiftung gespendet werden.